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7. Otto Neurath : Moral
218 Nicht nur , was mitgeteilt wird , unterliegt in großem Stile einer Art Zensur , vor [ 1981 irrtüm-
lich : wor ; A. S. ] allem ist die Art , wie Mitteilungen verbreitet werden , dem kapitalistisch-
bürgerlichen Wesen entsprechend. Sensation , Konkurrenz der Meldungen und vieles ande-
re ist auf allen Gebieten deutlich merkbar. ( Neurath 1928 [ 1981a , 234 ])
Ausführlich diskutiert Neurath zudem Jugendgemeinschaften und Schulformen , wobei
er für eine gemeinsame Schule eintritt , die Privilegien , die durch Bildung entstehen , ver-
hindert und ungleiche Bedingungen aufgrund des Elternhauses so weit wie möglich aus-
gleicht :
Das Bürgertum hat für sich und die Arbeiter die Rennbahn geöffnet , aber die Kinder der
neuen privilegierten Gruppen treten wohlgenährt mit leichten Sandalen an , während die
Kinder der Proletarier , schlechtgenährt , mit Ketten und Gewichten belastet , den Wettkampf
aufnehmen sollen. ( Neurath 1928 [ 1981a , 253 ])
Selbst wenn eine Bevorzugung von Spezialistinnen und Spezialisten in einer Gesellschaft
gerechtfertigt sei , müsse man damit „noch lange nicht eine bevorzugte Stellung der Ärz-
tekinder , der Technikerkinder , kurzum der Spezialistenkinder , anerkennen“ ( Neurath 1928
[ 1981a , 254 ]).
Auch die Ansicht , Wissenschaft stehe im Dienste des Klassenkampfes für eine Meh-
rung des menschlichen Glücks , wird 1928 formuliert :
Vom Proletariat wird die Wissenschaft erst als Mittel des Kampfes und der Propaganda im
Dienste für die sozialistische Menschheit recht gewürdigt. Da sorgen sich manche , die vom
Bürgertum kommen , ob wohl das Proletariat Sinn für die Wissenschaft haben werde – was
lehrt uns die Geschichte ? Gerade das Proletariat wird zum Träger der Wissenschaft ohne Meta-
physik. ( Neurath 1928 [ 1981a , 293 ])
Besonders die Statistik zeige , „wo der einzelne mitleiden kann , wo er sich mit zu freu-
en vermag“:
Sich mit den anderen als eine Gemeinschaft fühlen , kann man nur , wenn man lebhaft vor
Augen sieht , wie die Gesamtheit leidet und sich freut. [ … ] Alles , was der bildhaften Ver-
anschaulichung gesellschaftlicher Zusammenhänge auf statistischer Grundlage dient , dient
[ … ] letzten Endes der Menschlichkeit.
Statistik ist Werkzeug des proletarischen Kampfes ! Bestandteil sozialistischer Wirtschaftswei-
se , Freude des siegreich vordringenden Proletariats und nicht zuletzt Grundlage menschlichen
Mitgefühls. ( Neurath 1928 [ 1981a , 280 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441