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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Dies ist ein ganz klarer Bezug zur von Neurath mit Gerd Arntz entwickelten bildstatis-
tischen Methode.294 Auch diese betreibt und bewirbt Neurath im Dienste seiner mora-
lischen Zielsetzung. Und was Neuraths Verhältnis zur Wissenschaft betrifft , wie ich es
unten im Kontext von Ethik in der Einheitswissenschaft behandeln werde , äußert sich
Neurath deutlich :
Der Marxismus erkennt nur dort Wissenschaft an , wo man prophezeien , d. h. aus einem Teil-
geschehen ein anderes Teilgeschehen ableiten , kann. ( Neurath 1928 [ 1981a , 289 ])
Handelt es sich bei Lebensgestaltung und Klassenkampf um ein ethisches Buch ? Diese
Schrift ist kein ethischer Beitrag , in dem Moral analysiert wird. Es wird vielmehr nur
in Ansätzen die moralische Grundlage erläutert , von der aus Kritik geübt wird. Insofern
wäre eher von einer Schrift zu sprechen , die von einem moralisch-politischen Anliegen
getragen wird und in einem bestimmten Sinne einen Beitrag zur Angewandten Ethik dar-
stellt.295 Neurath geht es nämlich um neue Lebensgrundsätze , also um eine neue Moral ,
mit dem Gesamtinteresse des Proletariats als allgemein anerkannter Richtlinie :
Ein neues System von Lebensgrundsätzen kann heute die Gemeinschaft der proletarischen
Klassenkämpfer tragen , später einmal der Hauptteil einer immer mehr Menschen umfassen-
den Friedensgemeinschaft werden. ( Neurath 1928 [ 1981a , 228 ])
Gerechtfertigt wird dieses System nicht durch Gehorsam einem Gott oder dem eigenen
Gewissen gegenüber , sondern durch gemeinsamen Entschluss :
Gemeinsamer Entschluß kann gemeinsame Tat im einzelnen bestimmen. Unter denen , die
für die Befreiung , für das Glück des Proletariats kämpfen , fehlt meist der Wunsch , sich auf
eine Instanz in uns oder außer uns zu berufen. Man hat etwas Gemeinsames vor und richtet
sich danach ein. ( Neurath 1928 [ 1981a , 228 ])
Grundlage der Moral als gemeinsamem Unternehmen zur Steigerung des menschlichen
Glücks , das nicht an Individuen appelliert , sondern Strukturen verändert , ist und bleibt
ein gemeinsamer Entschluss. Neurath vertritt also einen erkenntnistheoretischen funda-
mentalen gemeinschaftlichen Dezisionismus.
294 Näheres zur Bildstatistik siehe u. a. Neurath P. 1994 oder in Nemeth / Stadler 1996. Die Methode wur-
de z. B. zur Illustration des Buches Arbeit , Wohlstand und das Glück der Menschheit von H. G. Wells he-
rangezogen.
295 Veröffentlicht wurde sie im Übrigen in der von Max Adler herausgegebenen Schriftenreihe Neue
Menschen.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441