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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Einig wäre man sich laut Carnap jedoch darin gewesen , dass Philosophie zu einer Verbes-
serung wissenschaftlichen Denkens und damit zu einem besseren Verständnis all dessen ,
was in der Welt , in Natur und Gesellschaft vorging , führe. Dieses Verständnis wiederum
könnte das menschliche Leben verbessern. ( Carnap 1963a [ 1993 , 38 ]) Jener wissenschaft-
liche Humanismus , wie ich ihn im Carnap-Kapitel ausfĂĽhrte , fungierte als einigendes
Band , besonders stark fĂĽr Neurath.
Wenn Stadler als kleinsten gemeinsamen Nenner die übergreifende „wissenschaftli-
che Weltauffassung“ sieht , in welche neben einer generell logisch-empirischen Einstel-
lung implizit auch eine weltanschaulich-politische Motivation im Sinne eines umfassen-
den Aufklärungsprogramms eingeflossen sei ( Stadler 1982a , 138 ), so ist dem nur teilweise
zuzustimmen , wie ich im Folgenden zeigen werde.
Seinen deutlichsten Ausdruck fand der Anspruch der neuen wissenschaftlichen Phi-
losophie , ihren Beitrag zu einer Modernisierung und Humanisierung der Gesellschaft zu
leisten , in der Programmschrift des Wiener Kreises von 1929 , die Neurath gemeinsam mit
Carnap und Hahn verfasste. Diese Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung. Der
Wiener Kreis ist zwar nur sehr bedingt als Verlautbarung des gesamten Wiener Kreises an-
zusehen und eher als „Deklaration seines linken Flügels“ ( Mormann 2000 , 26 ), doch in ei-
ner bestimmten Hinsicht brachte die Schrift auch Verbindendes zum Ausdruck.
Dies wird deutlicher , wenn , wie ich es im Folgenden unternehmen werde , drei Bedeu-
tungen von „wissenschaftliche Weltauffassung“ – wie sie auch in der Programmschrift
verwendet werden – unterschieden und mit ihnen Philosophie , Moral und Politik vonei-
nander getrennt werden. Dadurch wird auch Neuraths diesbezĂĽgliche Positionierung im
Verhältnis zu anderen Mitgliedern leichter verständlich.
„Wissenschaftliche Weltauffassung“ im engeren Sinne ( Bedeutung 1 ) umfasst einige
der folgenden Grundannahmen in Hinsicht auf Philosophie , Logik , Erkenntnistheorie ,
Wert- und Moralphilosophie , wobei die historische Aufarbeitung mittlerweile gezeigt hat ,
dass hier durchaus ein Pluralismus der Positionen bzw. der Interpre tationen vertreten war ,
und ich diese hier nur grob und schlagwortartig anfĂĽhren werde :
1. Philosophie soll wissenschaftlich sein bzw. sich an den modernen , exakten
Wissenschaften orientieren. ( Wissenschaftliche Philosophie )
2. Erkenntnis kann nur durch Erfahrung gewonnen werden. ( Empirismus )
3. Sätze , die nicht verifizierbar sind , sind kognitiv bedeutungslos.
( Verifikationistisches Sinnkriterium )
4. Metaphysische Sätze sind kognitiv bedeutungslos. ( Metaphysikkritik )
5. Wert- und Normsätze sind kognitiv bedeutungslos. ( Nonkognitivismus )
6. Die logische Analyse ist die zentrale philosophische Methode. ( Logische Analyse )
7. Die einzigen Aufgaben der Philosophie sind , die Wissenschaften zu analy-
sieren ( Wissenschaftslogik ) und / oder deren Leistungen auf verschiedenen
Gebieten in Verbindung und Einklang zu bringen ( Einheitswissenschaft ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441