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7. Otto Neurath : Moral
222 Hinsichtlich dieser Positionen herrschte im Kreis keine Einigkeit. Die Situation gestaltete
sich am ehesten so , dass jede( r ) genügend dieser Thesen vertrat , um sich der Gruppe zu-
gehörig zu fühlen. Einige Positionen wurden dabei von so vielen bzw. von einigen so mas-
siv vertreten , dass sie als die Position des Wiener Kreises vermittelt wurden und zumindest
nach außen hin den Ton angaben. Mit Ausnahme der moralphilosophischen Position ist es
diese „wissenschaftliche Weltauffassung“ im engeren Sinne , die in der Programmschrift im
Abschnitt mit der Überschrift „II. Die wissenschaftliche Weltauffassung“ erläutert wird.
„Wissenschaftliche Weltauffassung“ im weiteren Sinne ( Bedeutung 2 ) umfasst jedoch
zusätzlich Positi onen in Hinsicht auf die Moral als Lebenspraxis :
1. Die menschlichen Lebensbedingungen sollen verbessert werden.
2. Diese Verbesserung kann nur das Werk der Menschen selber sein.
( Es gibt weder übernatürliche Beschützerinnen oder Beschützer noch
übernatürliche Feinde oder Feindinnen ).
3. Viele der gegenwärtigen Leiden können vermindert werden.
4. Die Wissenschaft ist ein wertvolles Instrument für die Verbesserung des Lebens.
Diese Ansichten 1 bis 4 nennt Carnap , wie bereits im Carnap-Kapitel erläutert , in seiner
Autobiographie „wissen schaftlichen Humanismus“. ( Carnap 1963a [ 1993 , 130 ]) Durch die
vierte Ansicht ergibt sich ein direkter Zusammenhang von moralischer Haltung und wis-
senschaftlicher Tätigkeit. Soweit bekannt , wurde diese grundsätzliche Position von den
meisten Mitgliedern des Wiener Kreises vertreten und mündete bei dem einen oder an-
deren in persönlichem oder sozialem Engagement. Allen voran bei Neurath.
In Wissenschaftliche Weltauffassung heißt es hierzu :
Auch die Einstellungen zu den Lebensfragen lassen , obwohl diese Fragen unter den im Kreis
erörterten Themen nicht im Vordergrund stehen , eine merkwürdige Übereinstimmung er-
kennen. [ … ] So zeigen zum Beispiel die Bestrebungen zur Neugestaltung der wirtschaftli-
chen und gesellschaftlichen Verhältnisse , zur Vereinigung der Menschheit , zur Erneuerung
der Schule und der Erziehung einen inneren Zusammenhang mit der wissenschaftlichen
Weltauffassung ; es zeigt sich , daß diese Bestrebungen von den Mitgliedern des Kreises be-
jaht , mit Sympathie betrachtet , von einigen auch tatkräftig gefördert werden.
( Neurath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 10 ])
Der innere Zusammenhang , so meine These , liegt in der geteilten moralischen Haltung.
Die „wissenschaftliche Weltauffassung“ ist für die Mitglieder mit derselben moralischen
Haltung verbunden , wobei es sich hier nur um eine sehr allgemeine Grundhaltung han-
delt und sich in der spezifischen Ausgestaltung auch hier Unstimmigkeiten zeigen dürf-
ten. Zumindest in der Wiener Zeit verwenden die Mitglieder des Wiener Kreises „wissen-
schaftliche Weltauffassung“ dennoch wohl ( unbeabsichtigt ) in dieser weiteren Bedeutung.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441