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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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wohl in einer gemeinsamen Sprache , nämlich der der Physik. Carnaps Verständnis von Phy-
sikalismus forderte daher die Übersetzbarkeit der Sprachen der Einzelwissenschaften in die
der Physik. ( Uebel 2000 , 42 )301 Zwar teilte Neurath folgenden Ausgangspunkt mit Carnap :
Jede wissenschaftliche Aussage ist eine Aussage über eine gesetzmäßige Ordnung empiri-
scher Tatsachen. ( Neurath 1931 [ 1981a , 424 ])
Doch ging es Neurath im Unterschied zu Carnap nicht darum , nur die Sprache der Physik
zu verwenden.302 Ihm war es vor allem darum zu tun , dass die Wissenschaften nur darüber
etwas aussagen , was sie „irgendwie auf Beobachtungsaussagen zurückführen“ ( Neurath 1931
[ 1981a , 425 ]) können. Für ihn bedurfte es dazu nicht der Sprache der Physik , sondern ei-
ner „physikalistisch gereinigten“ Alltagssprache. Alles , „von dem man [ wissenschaftlich ? ;
A. S. ] sinnvoll reden kann , [ sind ] räumlich-zeitliche Ordnungen“ ( Neurath 1931 [ 1981a ,
431 ]), so die These des Physikalismus nach Neurath :
Nur solche Aussagen erlauben Ableitungen , die mit Bezug auf intersubjektiv verfügbare Tat-
sachen der Beobachtung nachprüfbar , [ … ] sind. ( Uebel 2000 , 43 )
Die intersubjektive Nachprüfbarkeit , das war Neuraths Anker und entscheidender Punkt.
Neurath zielte deshalb keineswegs darauf ab , etwa soziologische Gesetzmäßigkeiten auf
physikalische Gesetze zurückzuführen. Eine Übersetzung in die Sprache der Physik sei
nicht nötig und nach Neurath auch nicht immer möglich :
Physikalistische Soziologie betreiben , heißt nicht etwa Gesetze der Physik auf Lebewesen und ihre
Gruppen übertragen , wie es manche für möglich gehalten haben. Es können umfassende so-
ziologische Gesetze , ebenso Gesetze für bestimmte engere soziale Gebiete aufgefunden wer-
den , ohne daß man imstande sein müßte , auf die Mikrostruktur zurückzugreifen und so diese
soziologischen Gesetze aus physikalischen aufzubauen. ( Neurath 1931/32 [ 1981b , 549 ])
Die Einzelwissenschaften können eine spezifische Terminologie und Methode beibehal-
ten , solange sie nur über räumlich-zeitliche Ordnungen sprechen :
Der Physikalismus ergreift ebenso die Psychologie wie die Geschichte und Nationalökono-
mie , für ihn gibt es nur Gebärden , Worte , Handlungsweisen , keine „Motive“, kein „Ich“, kei-
ne „Persönlichkeit“ über das hinaus , was räumlich-zeitlich formuliert werden kann. Es ist
301 Zu weiteren Entwicklungen von Carnaps Physikalismus siehe Schilpp ( 1963 , 859–1016 ).
302 Die Idee der Einheitswissenschaft war auch nicht gegen bestimmte Wissenschaften , sondern gegen
den Ruf nach einer einheitsstiftenden Metaphysik , die gegen Ende der 1920er-Jahre immer allge-
meiner und aggressiver wurde , gerichtet. ( Nemeth 2005 , 11 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441