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7. Otto Neurath : Moral
230 Dewey leistete für die Encyclopedia zwei Beiträge , von denen Theory of Valuation be-
reits erwähnt wurde. Dewey sorgte sich darin , die programmatische Antimetaphysik der
Logischen Empiristinnen und Empiristen sowie der Ausschluss von Werturteilen aus der
Wissenschaft spielten denjenigen Kräften in die Hände , die der US-amerikanischen Öf-
fentlichkeit einzureden suchten , Werte seien nur in einem metaphysischen System und
nicht mit rationalen Argumenten zu begründen. Deweys Befürchtungen seien , so stellt
Nemeth klar , eingetreten :
In den 1950er Jahren setzte sich [ … ] ein Bild von Wissenschaft durch , in dem Fragen der
Wissenschaft vollständig getrennt von allen Fragen gesellschaftlicher Werte dargestellt wur-
den. Die Dichotomie zwischen Tatsachen und Werten war während des Kalten Krieges om-
nipräsent und trug dazu bei , dass der Logische Empirismus schließlich zu einem völlig un-
politischen Projekt wurde. ( Nemeth 2005 , 23 )
Für Neurath waren der Logische Empirismus in seinem Sinne und die Wissenschaften
dies entschieden nicht. Für Neurath ist Denken , auch wissenschaftliches , immer von sozi-
alen und geschichtlichen Verhältnissen abhängig ( vgl. Neurath 1930/31 [ 1981a , 384 ]). Eine
Ansicht , die Russell kritisierte , denn damit werde nach Neurath empirische Wahrheit von
der Polizei bestimmt. ( Russell 1940 , 148 ) Wie für die französischen Konventionalisten
( Henri Poincaré , Pierre Duhem und Abel Rey ) ließe die Beschreibung der Wirklichkeit
immer verschiedene Deutungen zu , sodass die Entscheidung für eine bestimmte Theorie
als konventionelle Festsetzung gesehen werden müsse. ( Nemeth 1994 , 102 )
Für Neurath liegt klar vor Augen , dass die Wissenschaft und „die Vernunft“, wie auch
Logik und Mathematik , nicht per se auf der Seite des gesellschaftlichen Fortschritts ste-
hen. ( Siehe dazu ausführlich Nemeth 1981. ) Schon 1921 bemerkte Neurath hierzu :
Es kommt bei der Wissenschaft nicht nur darauf an , wie sie die einzelne Untersuchung
durchführt , es kommt auch darauf an , welche Untersuchungen sie anstellt und welche sie un-
terläßt. Die Auswahl der Fragestellung ist aber wesentlich durch die Machtfaktoren , durch
das Milieu und vieles andere bestimmt , das mit Objektivität nichts zu tun hat. Es ist etwas
anderes , ob ich Arbeits- und Berufsforschung unter dem Gesichtspunkt der Leistungsstei-
gerung treibe oder unter dem Gesichtspunkt der Arbeitergesundheit und des Arbeiterglü-
ckes ! ( Neurath 1921a , 290 ; zit. n. Nemeth 1990 , 84 )
Für Neurath hat die Wissenschaft insgesamt wie schon früher die Ökonomie der Arbei-
tergesundheit und dem Arbeiterglück zu dienen , in weiterer Folge dem Glück der gesam-
ten Menschheit :
Aufklärung der Wissenschaftler über ihr eigenes Tun besteht für Neurath darin , sichtbar zu
machen und einzusehen , daß die Ordnung , die von der Wissenschaft erfaßt wird , seit sie ihre
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441