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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Begründung in Gott und damit – ebenso wie die „Wirklichkeit“ – ihre Einheit und Einzig-
keit verloren hat , durch nichts anderes mehr begrĂĽndbar ist als durch das , was Menschen da-
mit erreichen wollen. ( Nemeth 1990 , 87 )
Neurath will das Menschliche jeder Ordnung in ihrer Durchsichtigkeit und VerfĂĽgbar-
keit offenlegen. ( Nemeth 1990 , 88 ) Auch wissenschaftliche Entscheidungen sind nicht bis
ins Letzte theoretisch begrĂĽndet. Entscheidungen , die keine theoretische BegrĂĽndung er-
fahren , werden nach Neurath nicht erst in der Anwendung wissenschaftlicher Ergebnis-
se relevant :
Vielmehr ist die wissenschaftliche Maschine , die die einzelnen Sätze auf deren Wider-
spruchsfreiheit mit den bereits anerkannten wissenschaftlichen Sätzen hin überprüft und sie
dann dem Ganzen wissenschaftlicher Sätze eingliedert , selbst ein Ergebnis der Entscheidun-
gen von einzelnen handelnden Personen , den Wissenschaftlern , und kann von diesen auch
verändert werden. ( Nemeth 1990 , 87 )
FĂĽr Neurath umfasste seine Wissenschaftsbehavioristik auch pragmatische Entscheidun-
gen , nicht nur solche der Wissenschaftslogik im Carnap’schen Sinne ( Uebel 2000 , 58 ):
Der Betrieb der Soziologie , der Betrieb der Mathematik , der Biologie sind Handlungen wie
andere. Wissenschaftliche Forschungsrichtungen sind daher gesellschaftlich niemals neut-
ral , wenn sie auch nicht immer im Mittelpunkt sozialer Kämpfe stehen. ( Neurath 1931/32
[ 1981b , 514 ])
Die Mittel rationaler Aufklärung sollen nach Neurath jedoch nicht zu Mitteln der Sug-
gestion von Rationalität verkommen. In praktischen Entscheidungen kann nicht ratio-
nale Einsicht allein den letzen Grund zur Rechtfertigung von Handlungen geben.311 Ein
„konsequenter Rationalismus“ berücksichtige auch die Grenzen der „Einsicht“ und wir-
ke den verschiedenen Spielarten des „Pseudorationalismus“ entgegen.312 So positionierte
sich Neurath bereits 1913 in „Die Verirrten des Cartesius und das Auxiliarmotiv ( Zur Psy-
chologie des Entschlusses )“ ( 1913a ). Siehe dazu Nemeth ( 1994 , 112 f. ) und Nemeth ( 1981 ,
177 ff. ). Weil auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht alle Prämissen , die für
ihre Aussagen relevant sind , kennen , befinden sie
311 Neurath hegte starke Zweifel an bestimmten Formen des Rationalismus : „Es wird sich zeigen , ob
ein Zeitalter des Rationalismus imstande ist , solche umfassende Gedanken in kräftige Tat umzuset-
zen , die Menschheit als eine in bunter Mannigfaltigkeit aufgebaute Gesellschaft zu verwirklichen.“
( Neurath 1921b [ 1981a , 201 ])
312 Neurath vermutet in Poppers Programm einen Pseudorationalismus : „Pseudorationalismus und Fal-
sifikation“ ( Neurath 1935 /36a ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441