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7. Otto Neurath : Moral
236 Kleidung , Gesundheitspflege , Bücher , Theater , freundliche menschliche Umgebung , all das
gehört zur Lebenslage , auch die Menge der Malariakeime , die bedrohlich einwirken. Sie ist
die Bedingung jenes Verhaltens , das wir als Lebensstimmung kennzeichnen. Wir sprechen
von einer schlechteren Lebenslage , wenn die Stimmung eines Menschen durch solche Le-
benslage im allgemeinen herabgedrückt wird. Das setzt freilich voraus , daß man Lebensstim-
mungen in eine Reihe bringen kann , daß man von mehr oder minder glücklichem Ausdruck
eines Menschen zu sprechen sich getraut , daß man sogar die Verhaltensweisen zweier Men-
schen in diesem Sinne zu vergleichen wagt. ( Neurath 1931 [ 1981a , 512 ])
Neurath hält solche Vergleiche für möglich. Anhand angebbarer Merkmale ließen sich
Lebenslagen auf individueller Ebene erfassen und durch Gruppenbildung auch Bevölke-
rungsklassen auf ihre Lebenslage hin untersuchen. Möglich wäre sogar , eine Skala der Le-
benslagen aufzustellen :
Jedenfalls kann man nun innerhalb eines gegebenen Bereiches angeben , welche Gruppen
ihre Lebenslage infolge einer Gesamtwandlung verbessert , welche sie verschlechtert haben.
( Neurath 1931 [ 1981a , 512 ])316
Der Begriff „Lebensstimmung“ ersetzt in diesem Ansatz seit 1917 jenen des „Glücks“:317
§ 5. Den Ablauf des Erlebens eines Menschen wollen wir , soweit seine Erfreulichkeit in Be-
tracht gezogen wird , die Lebensstimmung eines Lebensstimmungssubjektes innerhalb eines be-
stimmten Zeitabschnittes nennen.
§ 6. Mit dem Namen „Lebensstimmung“ wird ein gemeinsamer Ausdruck für „Glück“ und
„Unglück“ geschaffen , doch mag man immerhin den Namen „Glück“ verwenden , um Glücks-
und Unglückserscheinungen zusammenfassend zu bezeichnen. ( Neurath 1917b , [ 1981a , 104 ])
Neurath bezieht sich , so Leßmann , mit dem Ausdruck „Lebensstimmung“ somit ein-
deutig auf das , was die Utilitaristinnen und Utilitaristen mit „Nutzen“ meinen. Er inter-
pretiert „Nutzen“ jedoch nie im Sinne von Wunschbefriedigung. ( Leßmann 2007a , 240 )
316 Neurath warnt jedoch davor , die Messbarkeit als Kriterium der Wichtigkeit zu nehmen : „Daß man
die meßbaren , einer handfesten Bearbeitung zugänglichen Größen ausführlicher berücksichtigt als
die mehr unbestimmten , wie Religiosität , Kunstbetrieb und derlei , ist klar. Doch muß man sich
hüten , jene Größen , welche einer klaren Erfassung leichter zugänglich sind , auch für wesentlicher
anzusehen oder gar zu glauben , daß die Größen , welche man so erfassen kann , irgendwie grund-
sätzliche Unterschiede gegenüber den weniger klar erfaßbaren aufweisen.“ ( Neurath 1917b [ 1981a ,
116 ])
317 Die Erläuterung weiterer von Neurath verwendeter Begriffe wie „Lebensboden“ oder „Lebensord-
nung“ würde hier zu weit führen.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441