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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Die Ursachen für die Lebensstimmung liegen , wie obiges Zitat erläutert , in den Le-
benslagen. Aus Gründen der statistischen Erfassungsschwierigkeiten verlagert sich Neu-
raths Schwerpunkt auf die Lebenslagen :
Die Lebensstimmungen können wir nicht unmittelbar erfassen , wir werden uns daher an
die Lebenslagen halten , an Wohnung , Nahrung , Kleidung , Arbeitszeit usw. [ … ]. ( Neurath
1920c , 58 )
Der Ausdruck „Lebenslage“, den Neurath von Friedrich Engels übernahm und den er be-
reits während des Ersten Weltkrieges verwendet ( am ausführlichsten in Neurath 1917b ),
entspricht bei Neurath , wie aus obigem Zitat ersichtlich wird , ungefähr dem Alltagsbe-
griff „Lebensbedingungen“.318
Der Lebenslageansatz berücksichtigt z. B. auch Krankheit und Gesundheit , welche in
Markt- und Konsumtheorien nicht berücksichtigt werden , wie Neurath auch in Was be-
deutet rationale Wirtschaftsbetrachtung ? erläutert.319 Meist in den Abschnitt „Sozialpolitik“
abgeschoben , müssten die Lebenslagen wesentlicher Bestandteil jeder wissenschaftlichen
Wirtschaftslehre sein.320 Wesentlich für die Lebenslagenrechnung sei , dass es hier keine
318 Kurt Grelling , Schüler Nelsons , übernahm in Grelling 1921 den Ausdruck von Neurath , obwohl er
wahrscheinlich weder Neurath 1911 oder 1912 noch 1917b kannte. Auch in einem späteren Briefwech-
sel zwischen Grelling und Neurath war der Lebenslageansatz kein Thema. ( Leßmann 2007a , 61 )
Gerhard Weisser , ein weiterer Schüler Nelsons , gab dem Ausdruck in den 1950er- bis 1970er-Jah-
ren eine neue Interpretation , in welcher er auf Nelsons Begriff des wahren Interesses an vernünfti-
ger Selbstbestimmung anschloss. Bei ihm bedeutet „Lebenslage“ den „Spielraum“, den ein Mensch
für die Gestaltung seines Lebens hat. ( Leßmann 2007a , 85 ff. ) Weissers Ansatz wurde insbesondere
in der bundesdeutschen Sozialpolitik viel verwendet und nicht zuletzt in der Definition und Erklä-
rung von Armut herangezogen. ( Leßmann 2007a , 212 ) Weissers Ansatz ist somit dem Capability-
Ansatz Amartya Sens näher als jener Neuraths. Noch mehr als Neurath konnte Sen seinen Ansatz
anwenden , wie dies beispielsweise in der Entwicklung des Human Development Index ( HDI ) und
des Human Poverty Index ( HPI ) für das United Nations Development Program ( UNDP ) geschah.
Mit Neurath teilt Sen , dass beide einen Ersatz für die Messung des Nutzens suchen. Wo Neurath
nahe am Nutzenkonzept auf die Lebenslage ausweicht , setzt Sen jedoch auf die Funktionen als er-
fassbare Größen , um das Nutzenkonzept gänzlich abzulösen. ( Für diesen Hinweis danke ich Ortrud
Leßmann. ) Zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden siehe ausführlich Konzeption und Erfassung
von Armut. Vergleich des Lebenslage-Ansatzes mit Sens „Capability“-Ansatz von Leßmann ( Leßmann
2007a ). Zum Vergleich Neurath–Sen siehe auch Leßmann 2007b und 2009.
319 Der Lebenslageansatz findet sich vor allem in den Schriften Neurath 1917b , 1925 , 1931 , 1935 , 1937b , 1944
und Neurath / Schumann 1919. In Letzterer geht es um eine Mindestlebenslage , wie sie schon Pop-
per-Lynkeus wissenschaftlich zu bestimmen trachtete. Wie sich dies mit der Relativität von Werten
( Neurath 1941b [ 1981b , 921 ]) verträgt , muss ungeklärt bleiben. ( Leßmann 2007a , 79 ff. )
320 Zur Rolle des Lebenslagenkonzeptes heute siehe z. B. unter : http://www.socialia.ch/Teaching/Le-
benslagekonzept.pdf. Auch Neurath findet in der aktuellen Literatur zu Lebenslagen-Indices Er-
wähnung ( z. B. in Schmidke 2005 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441