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7. Otto Neurath : Moral
240 Hier sei die Nationalökonomie eine empirische Wissenschaft. Dass das größtmögliche
Glück ein moralisches Ziel ist , kann und muss ausgeklammert werden. Für jene , die dies
als moralisches Ziel anerkennen , liegt ein Interesse an Soziologie als einem Instrument
nahe , nicht mehr von Interesse ist eine eigene Disziplin Ethik. Eine solche ließe sich , wie
schon oben angesprochen , gar nicht mehr von anderen Disziplinen abgrenzen.322 Es gebe
kein Kriterium , mit dem moralische Regelungen von anderen abzusondern wären :
Die Gesamtheit der angewandten Regeln , Gewohnheiten , Befehle wird sich aber nicht als
ein besonderes System ablösen lassen , wie es „die Moral“, „das Recht“, „die Religion“ im al-
ten Sinne waren. „Die Ethik“ oder „das Recht“ waren als Systeme nur verständlich , wenn
man sie unmittelbar oder mindestens historisch aus den Geboten Gottes oder einer höheren
Ordnung an sich ableitete. In einer Ordnung , welche wesentlich wissenschaftliche Weltauf-
fassung als Grundlage des Zusammenlebens kennt , gibt es Gewohnheiten , Regeln , die von
Organisationen oder Einzelnen anderen auferlegt werden , die man gemeinsam beschließt ,
aber man kann nicht recht ein „System“ abheben , das der früheren „Ethik“ oder dem frühe-
ren „Recht“ entspräche. [ … ] Es gibt nur noch Ausschnitte aus der Soziologie , die ein Hilfs-
mittel der Tat ist. Der Entschluß ist das eine , die Wissenschaft das andere. ( Neurath 1931
[ 1981a , 526 f. ])
Die Abgrenzung einer „Ethik“ könnte jedoch durchaus auch von außen kommen. Es
könnten alle jene Gewohnheiten und Regeln , die auf das Wohl aller abzielen und gemein-
sam beschlossen werden , „Moral“ genannt werden , alle wissenschaftlichen Untersuchun-
gen , die mit diesen direkt zusammenhängen , weiters einer Disziplin „Ethik“ zugeordnet
werden , ohne dass damit der entsprechende Teil der Wissenschaft selbst normativ würde.
Diese Möglichkeit wäre auch 1931 für Neurath offengestanden. Die zitierte Stelle deutet
darauf hin , dass er 1931 bei einer so definierten Disziplin nicht von „Ethik“ sprechen woll-
te , weil sie seinem damaligen Bild der traditionellen Ethik zu wenig entsprach. Für ihn
ist zu jener Zeit die traditionelle Ethik normativ , und zwar aufgrund der Befehle Gottes
oder einer anderen höheren Macht.
In Einheitswissenschaft und Psychologie ( 1933 ) stellt Neurath wiederum klar , dass Beha-
vioristinnen und Behavioristen aus ihren wissenschaftlichen Formulierungen keine For-
derungen ableiten können. Als Beispiel führt er folgende Aussage an ( der Autor wird
nicht genannt , aus einer späteren Bemerkung geht hervor , dass es sich um einen Ameri-
kaner handelt ):
322 Philosophinnen und Philosophen , die Neurath hier folgen , haben ihre Forschungsschwerpunkte des-
halb auf die Spiel- und Entscheidungstheorie verlagert. Dies ist dem Neurath’schen Gesamtansatz
solange gemäß , als sie den Rahmen nicht aus den Augen verlieren.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441