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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Es wird vielleicht einmal eine behavioristische , rein experimentelle Ethik geben , die uns sa-
gen wird , ob es vom Standpunkt gegenwärtiger oder künftiger Anpassung des Individuums
besser ist , eine oder mehrere Frauen zu haben , ob Todesstrafe oder andere Strafformen das
Richtige sind , ob Prohibition oder nicht , ob leichte oder schwere Ehescheidung , ob es besser
ist , Familienleben zu pflegen , Vater und Mutter zu kennen oder nicht. Was „gut“ oder „böse“
für den menschlichen Organismus , wie das Verhalten der Menschheit in experimentell ge-
sunde Bahnen zu lenken sei
– liegt heute noch jenseits unseres Wissens. Wir kennen viel zu
wenig vom Aufbau des menschlichen Körpers und seiner Bedürfnisse , um dogmatisch in un-
seren Vorschriften und Urteilen zu sein. ( Neurath 1933 [ 1981b , 603 f. ])
Zu dieser Ansicht des Amerikaners bemerkt Neurath :
Die „Forderungen“ an sich werden so nebenbei eingeschmuggelt , wenn auch erklärt wird ,
man könne noch nicht über „böse“ und „gut“ sich dogmatisch äußern. Als ob es heute eine an-
dere Definition von „gut“ gäbe als die , welche dies Wort auf das Verhalten von Individuen ,
Individuengruppen usw. gegenüber bestimmten Einzelvorgängen auf Grund von Regeln zu-
rückführt , die sie selbst aufstellten. ( Neurath 1933 [ 1981b , 604 ])
Befehle von „außen“ gibt es für Neurath nicht :
[ … ], Befehle geben Menschen anderen Menschen. Die Befehle haben nicht ein Eigenleben
„neben“ oder „über“ den Menschen , welche die Befehle geben. [ … ] Instanz ist immer wie-
der der Mensch. ( Neurath 1931 [ 1981a , 432 ])
Wenn also Befehle , dann von Menschen. Und in Neuraths Idealvorstellung sollten diese in
einem gemeinsamen Entschluss fallen. Diese könnten , wenn sie im Dienste des Glücks der
Menschheit stünden , „Moral“ genannt werden , wovor Neurath jedoch zurückschreckt. Sein
Moralverständnis ist zu jener Zeit nicht nur inhaltlich bestimmt , sondern eben auch davon ,
dass es sich um Befehle einer göttlichen oder zumindest höheren Instanz handelt , und zu-
dem davon , dass es sich um eine Praxis handelt , die nur auf die Handlungsmotive von In-
dividuen einwirken will. Aufgrund des Letzteren hält er sie auch bei einer Modifikation der
beiden ersten Punkte für sozial wirkungs- und damit für sein Vorhaben bedeutungslos :323
Wenn einmal ernsthaft die Abhängigkeit menschlichen Glücks von menschlichem Tun un-
tersucht wird , dann zeigt sich aber , daß die sozialen Wandlungen mehr als die persönlichen
323 Neuraths Auffassung der allgemeinen Volksbildung beinhaltet deshalb auch keine Indoktrination
moralischer und anderer Auffassungen. ( Uebel 2000 , 318 mit Verweis auf Dvořák 1982 ) 1903 war dies
noch anders. Zwischen 1903 und 1919 wurde jedoch die Rolle moralischer Anleitung fallengelassen
und alleine die der Informationsvermittlung akzeptiert. ( Uebel 2000 , 318 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441