Page - 242 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 242 -
Text of the Page - 242 -
7. Otto Neurath : Moral
242 Entschlüsse maßgebend sind für Glück und Unglück ganzer menschlicher Gruppen. An
die Stelle eines Systems göttlicher Forderungen an den Menschen , deren Deduktionen man
überprüft , an die Stelle der „Forderungen an sich“ tritt nun die Analyse der gesellschaftlichen
Abhängigkeit. An die Stelle Gottes und des kategorischen Imperativs tritt nun der gemein-
same Beschluss großer Gruppen , an die Stelle der Hingabe an transzendente Wesenheiten
tritt nun die Hingabe an irdische Gruppen und ihr Verhalten , wozu auch ihre ausgespro-
chenen oder nicht ausgesprochenen Forderungen gehören. Man fühlt sich als wissenschaft-
lich eingestellter Mensch im Verbande organisierter Menschen und verhält sich dementspre-
chend. ( Neurath 1931 [ 1981a , 433 ])
Nach Neuraths damaligem Verständnis ist die traditionelle Ethik , wo sie sich mit der tra-
ditionellen Moral auseinandersetzt , selbst normativ und dogmatisch. Als solche könne sie
nicht Teil einer Einheitswissenschaft sein :
An die Stelle der „Ethik“ tritt die systematisch betriebene Soziologie , an die Stelle des „ethi-
schen“ [ moralischen ; A. S. ] Verhaltens das irgendwie sozial näher bestimmte Verhalten in-
nerhalb einer Gruppe. Gewisse Bemühungen , eine Art „wissenschaftlich“ zulässiger „Ethik“
aufrechtzuerhalten , werden noch eine Zeitlang bestehen bleiben , bis die solidarische Ein-
gliederung einerseits , die wissenschaftliche Soziologie andererseits als Grundlage solcher
Eingliederung und alles gemeinsamen Verhaltens das reale Erbe antreten werden. ( Neurath
1931 [ 1981a , 433 f. ])
Grundsätzlich will Neurath herkömmliche Begriffe und Theorien der Ethik durchaus
nicht vorschnell aus der Wissenschaft ausschließen. In einer Rezension von Alf Ross’
Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis meint er , gerade die Erörterungen der Uti-
litaristinnen und Utilitaristen ließen sich so abändern , dass sie „innerhalb einer empi-
ristischen Gesellschaftstechnik eine legitime Stelle erhalten können“ ( Neurath 1935 /36b
[ 1981b , 646 ]). Außerdem könne , bei geschichtlichen Voraussagen das eigene Verhalten in
Rechnung zu stellen , eine Art von Betrachtung sein , die zu einer historisierenden Ge-
sellschaftslehre führe , „die das zu leisten vermag , was früher der Moraltheorie zugemutet
wurde“ ( Neurath 1935 /36b [ 1981b , 646 ]).
Grundsätzlich will Neurath auch Problemen , die noch in vagen und unvollkomme-
nen Sätzen formuliert sind , nicht ausweichen. Wie er in „Mensch und Gesellschaft in der
Wissenschaft“ ( 1936a ) betont , müsse man sich eben um den Ausbau des Gebietes bemü-
hen , auch wenn eine „streng wissenschaftslogische Analyse [ … ] sich mehr durch Beschäf-
tigung mit der Physik befriedigt [ fühlt ]“ ( Neurath 1936a [ 2006 , 621 ]). Der Beginn einer
empiristischen Wissenschaft , so noch 1941 , mag vage sein , aber nicht immer vermeidbar :
Ich kann nicht leugnen , daß viele wissenschaftlich orientierte Leute einen solchen Beginn ,
der voll von Vagheit ist , nicht mögen ; sie würden es vorziehen
– wie ich es vorziehen würde ,
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441