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7. Otto Neurath : Moral
244 Ein wenig Klarheit in dieser Frage brachte Neurath für sich 1941 in „Universaljargon
und Terminologie“. Obwohl er in diesem Aufsatz den Ausdruck „Wert“, aber auch „Erfah-
rung“ und „Verifikation“ zu den gefährlichen Termini zählt ( Neurath 1941a [ 1981b , 906 ]),
widmet er den Werttermini einen eigenen Abschnitt. Es bedürfe keiner besonderen Erör-
terung , dass Logische Empiristinnen und Empiristen Werttermini wie „gerecht“, „richtig“,
„schön“ relativieren würden. So könne „gerecht“ ersetzt werden durch „gerecht in Über-
einstimmung mit von jemandem aufgestellten Vorschriften“. Dabei mache es keinen Un-
terschied , ob man „jemand“ als die betreffende Person selbst ( „das eigene Gewissen“ ) oder
als „die Gemeinschaft , in der jemand lebt“, interpretiere. ( Neurath 1941a [ 1981b , 911 ]) Wa-
rum dies keinen Unterschied mache , erläutert Neurath jedoch nicht. Vermutlich will er
damit sagen , dass sich in beiden Fällen eine eindeutige physikalistische Terminologie er-
geben würde. Später heißt es in Bezug auf „gerecht“ aber auch :
Die Logischen Empiristen würden vielleicht vorschlagen , den Terminus „gerecht“ so rela-
tiv zu verwenden , wie sie den Terminus „angenehm“ verwenden würden
– ein Buch mag für
eine Gruppe von Lesern angenehm sein , für eine andere unangenehm. Das findet man her-
aus , indem man die Leser fragt oder ihr Verhalten analysiert. Aber es gibt Denker , die sich
gegen diese „Relativierung“ wenden ; sie meinen , daß „der Mensch absolute Standards der
Gerechtigkeit“ hat. Die Logischen Empiristen widersetzen sich allen Spielarten dieser Ein-
stellung , da die Vertreter des „Absolutismus“ nicht angeben , wie eine Meinungsverschieden-
heit zu bereinigen wäre , [ … ]. ( Neurath 1941a [ 1981b , 921 ])
Dem Physikalismus gehe es jedoch nicht darum , Wertfragen oder aus sogenannten „mo-
ralischen Fragen“ entstehende Probleme zu eliminieren , sondern er versuche nur , eine
Terminologie zu finden , mit der so viele Probleme wie möglich mit dieser allgemeinen
Terminologie erörtert werden könnten. ( Neurath 1941a [ 1981b , 912 ]) Logische Empiris-
tinnen und Empiristen wollten nämlich einen Weg finden , alles , was für sie , genauso wie
für andere , wichtig erscheint , diskutieren zu können , und zwar über Glaubens- und Ein-
stellungsunterschiede hinweg. Deshalb würden sie nach einer Terminologie suchen , die
ihnen dies ermögliche. Kritiken wie „Die Logischen Empiristen erklären , daß es über-
haupt kein Gut und Böse gibt“ oder „Für diese Logischen Empiristen , die das Moralge-
fühl zerstören , gibt es keinen Unterschied zwischen brutaler Gewalt und gütiger Liebe“
weist Neurath entschieden zurück. ( Neurath 1941a [ 1981b , 914 ]) Damit wird bei Neurath
zudem die Terminologie selbst zu einem Instrument des wissenschaftlichen Humanismus
und der toleranten Haltung Logischer Empiristinnen und Empiristen : Diese seien tole-
rant , machten Vorschläge und erwarteten Gegenvorschläge. ( Neurath 1941a [ 1981b , 915 ])
Die Unterscheidung von „Moral“ und einer „Moralwissenschaft“, welchen Namen die-
se immer tragen mag , ist Neurath wichtig. In „Enzyklopädismus als Erziehungsziel : Ein
dänischer Ansatz“ heißt es :
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441