Page - 247 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 247 -
Text of the Page - 247 -
7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
247
ging es nicht darum , generalisierende Methoden aus den Kulturwissenschaften auszu-
schließen. Er hielt sie nur nicht für die einzig legitime Methode , wobei es nicht um al-
ternative Methoden im gleichen Erkenntnisinteresse ging , sondern um zwei Methoden
für zwei verschiedene Forschungsinteressen. Und Schlick hat damit noch lange nicht , wie
auch Uebel sogleich anmerkt , Rickerts Werttheorie gutgeheißen.
Abgesehen von der Frage , ob Rickerts Wissenschaftstheorie einer Einheitswissen-
schaft , wie Neurath sie vorschwebte , entgegenstand oder nicht , lehnte Neurath Rickerts
Werttheorie ab. Rickert hatte in der Tat die Werte , von denen die Bedeutungen von indi-
viduellen Ereignissen , von Personen usw. in seiner kulturwissenschaftlichen Methode ab-
hängen , als objektiv verstanden und zwar „objektiv“ in anderem Sinne als bloß „dem Wil-
len des einzelnen enthoben“, wie es Carnap gebrauchte ( Neurath 1931 [ 1981a , 525 ]). Rickert
verstand die kulturwissenschaftlichen Ergebnisse insofern als objektiv , als er sie als Ergeb-
nisse in Bezug auf allgemein wichtig erachtete Gesichtspunkte sah :
Diese Allgemeinheit der Kulturwerte erst ist es , welche die individuelle Willkür der geschichtli-
chen Begriffsbildung beseitigt , und auf der also ihre „Objektivität“ beruht. ( Rickert 1926 , 95 )
Warum es gerade die von ihm genannten Werte von Religion , Staat , Recht , Sitten etc. sein
sollen , beantwortet Rickert in Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft nicht. Methodisch
ist dies auch nicht entscheidend und bedeutsam , d. h. , aus der Perspektive der Methode
macht es keinen entscheidenden Unterschied.
Wenn Rickert den historischen Materialismus nicht als objektive Geschichtsschreibung
anerkennt , so deshalb , weil er die Wertperspektive , die darin eingenommen wird , nicht für
allgemein anerkannt hält. Auch eine Würdigung von Personen ist nur objektiv , wenn sie
aus der Perspektive einer allgemein geteilten Wertperspektive erfolgt. Ob Massenphäno-
men oder Personen , ist nebensächlich. Bei nicht allgemein geteilten Perspektiven bleibt
sie für Rickert parteiisch. ( Für Rickert hieß eine Wertperspektive einnehmen noch nicht ,
den Wert auch als Wert zu unterstützen. Auch er wollte keine wertende Wissenschaft. )
Um mit der strengen Objektivität der generalisierenden Methode mithalten zu kön-
nen , wäre jedoch nicht nur eine faktische Wertübereinstimmung nötig , sondern die Gel-
tung von übergeschichtlichen Werten , so Rickert :
Müssen wir also nicht die Geltung von übergeschichtlichen Werten und durch sie konstitu-
ierende Sinngebilde voraussetzen , denen die faktisch anerkannten geschichtlichen Kultur-
werte wenigstens näher oder ferner stehen ? Wird nicht erst dadurch die Objektivität der Ge-
schichte der der Naturwissenschaft ebenbürtig ? ( Rickert 1926 , 134 )
Nach Rickert müsste auch eine wissenschaftliche Universalhistorie möglich sein. Uni-
versalhistorikerinnen und -historiker , die nicht nur aus der Perspektive einer bestimmten
Kultur eine Bedeutung untersuchten , müssten voraussetzen , dass irgendwelche Werte ab-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441