Page - 254 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 254 -
Text of the Page - 254 -
8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral
254 Wir befinden uns hier in der gleichen Lage , wie wenn man uns zu entscheiden bäte , ob die
Behauptung , „dieser Tisch ist gr …“ wahr sei , wobei „gr …“ „grün“ oder „grau“ oder „groß“
bedeuten kann. Wenn ich mich weigere , ĂĽber die Richtigkeit einer solchen Behauptung ein
endgĂĽltiges Urteil abzugeben , weiche ich nicht einer Entscheidung aus , sondern ich verlange
eine Erklärung oder Vervollständigung der Behauptung selbst. Wird die Behauptung vervoll-
ständigt , zum Beispiel durch den Zusatz des Ausdrucks „relativ zur Schwerkraft an meinem
Standort“, so werde ich sehr bestimmt antworten : „Gewiß ist mein Kopf über meinen Füßen“
und : „der Kopf meines Antipoden ist gewiß unter seinen Füßen“. Wenn ich die Behauptung
in anderer Weise ergänze , zum Beispiel durch den Zusatz : „relativ zur Schwerkraft an dem
Standort meines Antipoden“, so lautet die Antwort anders , doch ebenso bestimmt wie zuvor.
Beide Antworten sind „absolut“ – oder besser : zuverlässig – wahr. ( Frank 1950 [ 1952 , 17 f. ])
Auch Einsteins Relativitätstheorie habe nichts mit „Subjektivismus“ oder „Skeptizismus“
zu tun , wie ein weit verbreiteter Vorwurf jener Zeit lautete :
[ … ], Einsteins berühmte Relativitätslehre hat nichts mit irgendeinem „Subjektivismus“ oder
„Skeptizismus“ zu tun , und noch weniger bedeutet sie einen Verzicht des menschlichen Geis-
tes auf die Erforschung der „Wahrheit“.
Genau das Gegenteil ist richtig. „Relativismus“ bedeutet die Einführung einer ausdrucksrei-
cheren Sprache , die es uns gestattet , den BedĂĽrfnissen einer reicheren Erfahrung angemes-
sen zu begegnen. ( Frank 1950 [ 1952 , 23 ])
Frank gibt zu , dass die Wissenschaft jeden absoluten Erkenntnisanspruch infrage stellt.
Damit schwäche sie sehr wohl die Bereitschaft , an absolute Werte zu glauben. Doch da-
rin liegt fĂĽr Frank kein Problem , sondern ein positives Merkmal. Solche Relativierungen
seien ein allgemeines Merkmal intellektuellen und kulturellen Fortschritts ( aus Sicht ei-
ner aufgeklärten Gesellschaft ). Wissenschaftliche Objektivität sei auch ohne einen abso-
luten Bezugspunkt möglich. Diese Relativierungen seien deshalb nicht für einen Werte-
verfall und die Anfälligkeit für totalitäre Systeme verantwortlich zu machen. Sie schaden
einer demokratischen Gesellschaft also nicht. Frank geht ĂĽber diese Behauptung sogar hi-
naus und behauptet zudem , gerade die Tendenz zur Relativierung trage zum Fortschritt
einer aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft bei , indem sie autoritären Tenden-
zen entgegenwirke.
Gleichzeit war Frank sich dessen bewusst , dass Wissenschaft diese aufklärerische
Funktion nur bei entsprechender Schulung in ( selbst- )kritischem Denken , wie es in der
Wissenschaftstheorie erfolgen sollte , erfüllen könnte :335
335 Besonders warnt Frank vor Naturwissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern , die schlechte philo-
sophische Abhandlungen schreiben. Der vermeintliche Segen der Wissenschaft fĂĽr philosophische
Thesen sei oft nur schlechte Philosophie. Da werde dann etwa die Quantenphysik zur Grundlage
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441