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8.2 Relativity – A Richer Truth
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„Morden“ gemeint ist. Nur dann , wenn ein Grundsatz von operationalen Definitionen be-
gleitet ist , bezeichnet er eine bestimmte Lebensweise. ( Frank 1950 [ 1952 , 79 ])
Ich kann entweder sagen , der Grundsatz soll unter allen Umständen befolgt werden , und
definiere sodann die Umstände , unter denen von „Mord“ zu sprechen ist , oder ich sage ,
das Gesetz braucht nur relativ zu den Umständen befolgt zu werden. Der Rat bleibt der
gleiche. ( Frank 1950 [ 1952 , 79 ])
Der Weg geht von der Verständigung über die Wünschbarkeit bestimmter Lebens-
weisen zu den allgemeinen Prinzipien , nicht umgekehrt. Der Ausgangspunkt einer Mo-
ral ist deshalb für Frank die Verständigung einer Menschengruppe untereinander über
die Wünschbarkeit einer bestimmten Lebensweise , die sich in der Umgangssprache be-
schreiben lässt. Wird diese Gruppe von der ganzen Menschheit gebildet , werde , so mut-
maßt Frank , der Tatsachengehalt der Verständigung sehr klein. Die Wahl würde immer
zwischen „einem schmalen Verständigungsstreifen innerhalb einer großen und einer brei-
ten Verständigungsfläche innerhalb einer kleinen Gruppe“ liegen. ( Frank 1950 [ 1952 , 80 ])
Auf dem Gebiet des Verhaltens müssten rücksichtslos alle Grundsätze aufgegeben werden ,
die Entscheidungen aufzwingen , die nicht im Einklang mit der gewünschten Lebenswei-
se stünden. ( Frank 1950 [ 1952 , 81 ]) Die Grundsätze haben also eine Realisierungsfunkti-
on im Hinblick auf gewünschte Lebensweisen und sind nicht Selbstzweck. Sie müssen
immer wieder daraufhin geprüft werden , ob sie ihre Funktion erfüllen. Wenn sie es nicht
tun , seien es falsche Grundsätze.
Dennoch gibt es bei Frank für die Moral inhaltliche Vorgaben : Es geht um die Wir-
kung auf das Glück und Leid der Menschen ( z. B. Frank 1950 [ 1952 , 36 ]). So seien auch
für die zeitgenössische Wissenschaft die großen liberalen und humanen Werte wesentlich.
( Frank 1950 [ 1952 , 84 ]) Frank schließt sich sogar Ralph Barton Perry darin an , ein Grund-
satz , der offenbar unnötiges Leid über die Menschheit bringt , müsse ein falscher Grund-
satz sein und seine Falschheit könne am Leid , das er verursacht , erkannt werden. ( Frank
1950 [ 1952 , 94 f. ]) Relativ zur Zielsetzung einer humanen Moral erweist sich ein solcher
Grundsatz als falsch. Wir finden bei Frank also einen erkenntnistheoretischen systemim-
manenten Kognitivismus.
Ein abschließender Gedanke zur pragmatischen Moral :
Wir sehen aus all diesen Überlegungen , daß sehr oft die Leitgedanken der modernen Na-
turwissenschaft in ihrer Anwendung auf ethische und religiöse Probleme
– kurz auf Proble-
me des menschlichen Verhaltens
– mißverstanden und falsch ausgelegt wurden. Heute ist das
Prestige der Wissenschaft so groß , daß eine Überlegung auf irgendeinem Gebiet des Den-
kens nur dann haltbar erscheint , wenn sie mit den wissenschaftlichen Lehren in Einklang
steht. Es wäre wirklich traurig , wenn die Grundsätze der modernen Wissenschaft , wie die
„Relativität der Wahrheit“ und die „pragmatische Auffassung von der Bedeutung“ tatsäch-
lich einen schädlichen Einfluß auf das menschliche Verhalten hätten ! ( Frank 1950 [ 1952 , 47 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441