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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
278 Da dies für die Ethik die bedeutendste Beziehung darstellt , gilt mein Hauptinteresse
hinsichtlich der Beziehung zwischen Evolution , Glück und Moral der Frage , ob es sich
in der Lebensweisheit um eine evolutionistische Ethik im Sinne G. E. Moores handelt. Be-
gründen darin Aussagen über die Evolution hinreichend , was aus moralischer Sicht getan
werden soll bzw. als moralisch gut zu betrachten ist ?
Es gibt durchaus Stellen in der Lebensweisheit , die dies auf den ersten Blick zu bele-
gen scheinen. Wir lesen z. B. :
Dichter , Künstler und Philosophen predigen dem modernen Menschen über die Richtun-
gen , die sein Leben einschlagen soll. Nur aus den Prinzipien der Entwicklungslehre der Trie-
be können wir entscheiden [ Hervorhebung A. S. ], inwieweit er ihnen Glauben schenken darf.
( Schlick 1908 , 340 f. )
Aus dem Kontext wird jedoch ersichtlich , dass dies keineswegs auf eine evolutionistische
Ethik hinausläuft. Schlick fährt an dieser Stelle nämlich fort :
Und sie [ die Entwicklungslehre der Triebe ] zeigte uns , daß dem Menschen nichts Besseres
geschehen kann als eine Vermehrung seiner Fähigkeit , zu lieben. Alles , was nur irgendwie an
ihr mithilft , ist gut , und alles , was sie stört und vernachlässigt , ist vom Übel , weil es den besten
Teil des menschlichen Glückes stört und vernachlässigt [ Hervorhebung A. S. ]. ( Schlick 1908 , 341 )
Der wesentliche Punkt ist , wie das Glück / die Lust betroffen ist. Eine Handlung , eine Ei-
genschaft , eine Entwicklung etc. ist besser , wenn sie die Menschen dem Ziel der Evolu-
tion näher bringt , aber das ist alles über die Wertigkeit der Lust / des Glücks vermittelt.
Dass die Lust / das Glück der Menschen gut ist , ist eine von der Richtung der Evolution
unabhängige Behauptung.
Was in der Lebensweisheit als höchstes Gut365 genannt wird , ist die Glückseligkeit.
( Schlick 1908 , 34 ) Schlick gilt die Lust als Maßstab aller Werte in der Welt. Alle Wertur-
teile seien Aussagen über Quantitäten von Lust :366
Werturteile sind Urteile über das Interesse , das ich an irgendwelchen Gegenständen habe.
Interesse für mich haben – d. h. irgendwelche Wünsche in mir hervorrufen – können die
Dinge aber nur dadurch , daß sie mir Lust versprechen oder Unlust drohen ; dies war ja die
Hauptwahrheit , die wir uns in den vorhergehenden Kapiteln deutlich zu machen bemüht ha-
ben. Folglich sind alle Werturteile Aussagen über Quantitäten von Lust. ( Schlick 1908 , 42 f. )
365 Das summum bonum. ( Schlick 1908 , 34 )
366 „ [ … ] was wir den Wert eines Dinges nennen , das ist nichts als die Menge der Lust , die wir aus ihm
trinken können.“ ( Schlick 1908 , 40 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441