Page - 281 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 281 -
Text of the Page - 281 -
9.2 Schlicks moralische und ethische Auffassungen vor seiner Wiener-Kreis-Periode
281
Insofern erfüllt Schlicks Evolutionsverständnis eine Erklärungsfunktion.370 Des Weiteren
ergibt sich aus Schlicks Ausführungen , die Evolution stelle ( im Großen und Ganzen ) ei-
nen moralischen Fortschritt dar , da immer wertvollere , da lustvollere , Zustände entstehen
würden. Und nicht zuletzt kann die Evolution in Schlicks Ansatz Hilfe in der Erforschung
dessen leisten , was im moralischen Handeln zu erreichen möglich ist und welches die Mit-
tel zum Erreichen sind. Hielt Moore diese Beziehung insgesamt für die Ethik ( Moral ) von
geringem Nutzen ( Moore 1903 [ 1970 , 98 ]), so kommt im speziellen Fall der Lebensweis-
heit hinzu , dass aufgrund von Schlicks optimistischem Evolutionsverständnis die Evolu-
tion der Moral auf lange Sicht keine große Einschränkung auferlegt. Kurzfristig ist sie je-
doch an den Stand der Entwicklung gebunden.371 Die aufgezeigten Beziehungen sind für
die Ethik , sofern es ihr um die Begründung von Werten und Normen geht , von nachran-
giger Bedeutung. Ganz anders liegt jedoch die Bedeutung für Schlicks damalige Auffas-
sung von der Aufgabe der Philosophie und seiner Lebenseinstellung.
Die Evolutionslehre bot Schlick wie anderen Denkerinnen und Denkern seiner Zeit
eine großartige Integrationsmöglichkeit und Systematisierung. Und genau darin bestand
für Schlick zu jener Zeit die Aufgabe der Philosophie. In seiner Antrittsvorlesung in Ros-
tock aus dem Jahre 1911 mit eben dem Titel „Die Aufgabe der Philosophie in der Gegen-
wart“ heißt es : Die Philosophie sei diejenige Wissenschaft ,
welche die allerallgemeinsten Begriffe und Beziehungen zu untersuchen und aus ihnen eine
einheitliche Weltanschauung zu bilden hat. ( Schlick [ Die Aufgabe der Philosophie in der
Gegenwart ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 1 , A. 2 )
Schlick hat in dieser Zeit nichts gegen eine Metaphysik als Weltanschauungslehre , mit
der die Philosophie das wissenschaftliche Weltbild ergänzt.372 Sein Evolutionsverständnis
370 Ist heute von „evolutionärer Ethik“ die Rede , werden solche Varianten , die die sozialen und morali-
schen Fähigkeiten , Dispositionen und gegebenenfalls Normen und Institutionalisierungen des Mo-
ralischen aus der Evolutionsgeschichte beschreiben und erklären , mit umfasst. Schon Darwin frag-
te in Die Abstammung des Menschen ( Darwin 1874 ) nach den evolutionären Wurzeln der moralischen
Vermögen in der Naturgeschichte , die uns mit anderen Lebewesen verbindet. ( Engels 2002 , 341 )
371 Moore will bei solchen Beziehungen nicht von evolutionistischen Ethiken sprechen , da in ihnen die
Ethik von geringer Bedeutung sei. ( Moore 1903 [ 1970 , 98 ])
372 Schlick wird auch 1934/35 in „Philosophie und Naturwissenschaft“ noch von „Weltanschauung“ spre-
chen , wenngleich nun den Naturwissenschaften die entscheidende Rolle in der Formung von Welt-
anschauungen zuerkannt wird. Der Philosophie ist die Sinnklärung der naturwissenschaftlichen
Begriffe aufgetragen. Ob hier eine Polemik gegen Neurath mitschwingt , der „Weltanschauung“ ent-
schieden ablehnt , muss auch Mormann offenlassen. ( Mormann 2010a , 281 , Fn. 3 ) Im Übrigen äußert
sich Schlick in diesem Artikel durchaus wohlwollend gegenüber den Geisteswissenschaften und ih-
rem Verständnis bei Rickert und Windelband. Die Geisteswissenschaften beschäftigten sich mit dem
Menschlichen im Dienste des Menschlichen. ( Schlick 1934/35 [ 2008 , 538 ff. ]) Schon in „Erkennen ,
Erleben , Metaphysik“ ( Schlick 1926 ) sah Schlick die Aufgabe der Geisteswissenschaften darin , Er-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441