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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
286 Informationen. Ethik ist für ihn in der Lebensweisheit kein normatives Unternehmen , doch
macht er gleichzeitig klar , dass die Philosophie – ich nehme an , er sieht sich als Schrei-
ber in der Rolle des Philosophen – diese wichtigen Informationen geben könne , sofern
sie ihre Aufgabe nicht zu eng fasse. Es handelt sich um keine normative , aber dennoch
inhaltliche Ethik. Selbst wenn die Philosophie sich nach Schlick auf theoretische Aussa-
gen zur Lebensführung beschränken müsse und keinesfalls als Mahnerin auftreten dür-
fe , so müsse man den Leserinnen und Lesern doch das Glück versprechen , „sonst macht
man ihnen nur das Herz schwer , und sie wollen nichts davon hören“ ( Schlick 1908 , III ).
Schlick wollte jedoch , dass ihm zugehört werde :
Schlick wollte immer für ein Produkt werben , von dem er überzeugt war. Und er wollte um
ein Publikum werben , das für das Produkt empfänglich war. Das ist der Kommunikator im
Kontrast zum Tüftler Carnap und dem Verkünder Neurath. ( Strobach 2008 , 279 )378
Später wird er Werturteile fällen , gleichwohl er dies zu verhüllen versucht.
Gemäß einem engen Ethikverständnis gehört vieles aus dem Werk gar nicht zur
Ethik. Schlicks thematischer Leitfaden sind das Glück und das glückliche Leben des
Einzelnen. Ethik hängt in dieser Herangehensweise eng mit Anthropologie und um-
fassenden Ansichten zusammen. Manches würden wir heute eher der Handlungsthe-
orie zuordnen oder anderen Bereichen der Praktischen Philosophie. So bietet der ers-
te Teil der Lebensweisheit eine Affekten- und Handlungslehre. Kennzeichnend für das
Werk ist jedenfalls ein holistischer Ansatz , der die behandelten Fragen in ein größe-
res System einordnet.379 Die Übergänge zu Themenstellungen anderer philosophischer
Disziplinen sind fließend.
378 Insbesondere in den Vorlesungen zeigt sich Schlick als guter Pädagoge , indem er ganz deutlich beim
Vorwissen der Studierenden ansetzt.
379 In einem gewissen Sinne blieb Schlick ein Systemphilosoph. Noch gegen Mitte der 1920er-Jahre war
Schlick darum bemüht , ein „System der Philosophie“ zu verfassen , das auf der Ethik und der Ästhe-
tik aufgebaut werden müsste. Am 15. August 1925 teilt er Reichenbach mit : „Augenblicklich schrei-
be ich noch meine Ethik , die zugleich Aesthetik ist , und an einem System der Philosophie , das si-
cher den Vorzug der Originalität haben wird.“ ( Nachlass Reichenbach , HR 016–18–19 ; zit. n. Ferrari
2008 , 101 ). Am 12. September 1924 hatte er an Gerda Tardel geschrieben , sein System der Philoso-
phie , das er schreiben wolle , solle den Titel „Die Welt als Spiel“ tragen ( Nachlass Tardel ; zit. n. Iven
2008b , 92 , Fn. 7 ). Im Wintersemester 1933 /34 hielt er noch eine Vorlesung „Die Probleme der Philo-
sophie in ihrem Zusammenhang“, die 1986 nach einer Mitschrift von Käthe Steinhardt herausgege-
ben wurde ( Schlick 1986 ). In der Einleitung tritt eine ethische Frage als erstes philosophisches Pro-
blem auf , im Rest der Vorlesung spielen Ethik und Moral aber kaum mehr eine Rolle ( ebenso wenig
die Ästhetik ). Schlick ließ zu jener Zeit Mitschriften seiner Vorlesungen anfertigen , weil er diese
zu publizieren gedachte. Steinhardt verfasste im Wintersemester 1935 /36 zudem eine Mitschrift von
„Ethik und Kulturphilosophie“ ( Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 44 , B. 24 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441