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9.2 Schlicks moralische und ethische Auffassungen vor seiner Wiener-Kreis-Periode
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Dieser Professor , der wohl nicht zufällig viel Ähnlichkeit mit Schlicks Selbstbild aufweist ,
wird sodann den Namen „Neuer Epikur“ erhalten und den Erzähler über Spiel und Ar-
beit belehren. Er spricht sich gegen Pflichterfüllung , Zielbewusstsein und ein nur auf Ar-
beit bezogenes Leben aus :
Spiel , Heiterkeit , Hoffen contra Arbeit , Ernst und Sorge ; Selbstgenügsamkeit gegen Zweck
–
das ist Ormudz contra Ahriman , und hier haben Sie eine ganze Philosophie in nuce , ein Sa-
menkorn , aus dem Ihnen eine Antwort auf jede beliebige Frage emporwachsen kann , die Sie
nur über den Wert der Dinge und des Daseins stellen mögen. Ja , einen ganzen metaphy-
sischen Baum und Weltanschauungs-Ygdrasil könnte ein leidlicher Gärtner daraus ziehen.
( Schlick [ Der neue Epikur ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 11 , A 27b , 24 )
Die wesentlichen Themen aus der Lebensweisheit werden verpackt in einen Dialog wieder
aufgenommen. Desgleichen sind die evolutionistischen Gedanken noch vorhanden. Es
handelt sich jedoch um stilistisch unbeholfene , schlechte literarische Umsetzungen sei-
ner damaligen Vorlesungen.
Die Philosophie der Jugend : 1917 gibt Schlick die Arbeit an Der neue Epikur schließlich
auf und beginnt stattdessen Die Philosophie der Jugend. ( Iven 2008a , 212 ) Über die Fort-
setzung der Arbeiten darin zwischen 1917 und 1931 wissen wir aus dem Briefwechsel mit
Gerda Tardel. ( Iven 2006a , 4 )384 Schlick berichtet von seiner Arbeit wiederholt in Brie-
fen an sie ( u. a. 4. Oktober 1917 , 15. Juni 1918 , 16. Juli 1918 , 31. Juli / 1. August 1918 , 10. und
29. September 1918 ). Am 29. Juni 1920 schreibt er darüber hinaus an Albert Einstein , er
sei mit Ethik beschäftigt , und 1927 erwähnt er das Werk in Vom Sinn des Lebens ( Schlick
1927a , 346 ).
Im Stile von Der neue Epikur unterhalten sich nun mehrere junge Menschen , die ei-
nem Lehrer namens Victor zuhören. Schauplatz sind nicht mehr die Berge , sondern die
Ostsee. Die Inhalte von Schlicks Vorlesungen zur Ethik werden auf verständlichere Wei-
se vermittelt , so äußert sich Victor beispielsweise ablehnend über Kant :
Es ist ja nicht wahr , daß wir einen Menschen nur dann für gut halten , wenn aus seinem Wol-
len nur die Achtung vor der Majestät einer blutleeren Pflicht redet , eines Gesetzes , das über
seinen natürlichen Trieben und Instinkten thront. ( Schlick [ Die Philosophie der Jugend ],
Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 19 / A. 74b , 8 )
Auch ansonsten gibt es inhaltlich keine entscheidenden Änderungen.
384 Gerda Tardel ( 1899 , Sterbedatum unbekannt ) war eine langjährige Bekannte und zeitweilige Stu-
dentin Schlicks. Die Briefe Schlicks an Tardel befinden sich seit 1995 teilweise im Besitz der Staats-
bibliothek zu Berlin.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441