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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
292 Lilien auf dem Felde“ sei keine unerreichbare Utopie. ( Schlick 1927a , 339 ) In der Anti-
ke – Schlick zitiert Platons Gesetze 803c–804b – sei man einem solchen Leben schon nä-
her gewesen , wobei Schlick keinen Gedanken darauf verwendet , unter welchen Bedin-
gungen dies nur wenigen möglich war. Ruskins Idee , das ganze Leben solle eine Kette
festlicher Handlungen sein , kommt wieder zu Ehren , und Goethes „Tages Arbeit , abends
Gäste , saure Wochen , frohe Feste“ ( Goethe 1887 [ 1987 , 182 ]).390 Wenn unter den ( noch )
gegebenen Umständen schon nicht das ganze Leben ein Spiel sein könne , so sei es mög-
lichst viel davon :
Arbeit und MĂĽhe , solange sie nicht selbst zum freudigen Spiel geworden sind , sollen Freu-
de und Spiel ermöglichen ; darin liegt ihr Sinn. Sie können es aber nicht , wenn der Mensch
das Freuen verlernt , wenn nicht festliche Stunden dafĂĽr sorgen , daĂź das BewuĂźtsein davon ,
was Freude ist , erhalten bleibt. ( Schlick 1927a , 341 )391
Am stärksten und reinsten finde sich dies in der Jugend. Ganz im Sinne der Jugendbewe-
gung – die Schlick erwähnt , der er jedoch als Organisation nicht angehörte – und insbe-
sondere Wynekens , den Schlick bis dahin rezipiert hatte ,392 lehnt Schlick es ab , diese Zeit
nur als Vorbereitung auf den Ernst des Lebens zu sehen :
In der Tat , Jugend ist nicht bloĂź die Zeit des Wachsens , des Lernens , des Reifens , des Noch-
nicht-fertig-seins , sondern zuerst die Zeit des Spiels , des Selbstzwecks im Handeln , und
folglich ein wahrer Träger des Lebenssinnes. ( Schlick 1927a , 344 )
Das eigentliche Leben komme nicht irgendwann später , auch nicht in einem Leben nach
dem Tod :
FĂĽr den modernen Menschen ist wenig Zweifel , daĂź des Lebens Wert und Ziel entweder
ganz und gar diesseitig sein muĂź , oder ĂĽberhaupt nicht zu finden ist. ( Schlick 1927a , 344 )
Es gehe jedoch nicht nur um die Jugend als einen Lebensabschnitt , sondern um eine be-
stimmte Lebensart :
390 Zitate sind bei Schlick selten quellentreu. Gelegentlich lassen sie sich gar nicht aufweisen. Das Zi-
tat aus „Der Schatzgräber“ lautet vollständig : „Tages Arbeit ! Abends Gäste ! / Saure Wochen ! Frohe
Feste ! / Sei dein künftig Zauberwort.“ Ähnliche Gedanken finden sich schon in „Warum sollen wir
Feste feiern ?“ ( Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 18 , A. 72a ).
391 Um Freude gehe es , nicht um bloĂźes VergnĂĽgen. Freude sammle , VergnĂĽgen zerstreue. ( Schlick
1927a , 342 )
392 Gustav Wyneken ( 1875–1964 ) war ein deutscher Pädagoge , der der frühen Jugendbewegung sehr nahe
stand und eine Rede auf dem Hohen MeiĂźner hielt. Siehe dazu das Carnap-Kapitel der vorliegen-
den Untersuchung.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441