Page - 293 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 293 -
Text of the Page - 293 -
9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
293
Jetzt wird man es nicht mehr mißverstehen können , wenn ich als Kern dessen , was es mich
zu sagen drängt , den Satz ausspreche : Der Sinn des Lebens ist die Jugend.
Je mehr Jugend in einem Dasein verwirklicht wird , desto wertvoller ist es , und wer jung stirbt ,
wie lange er auch gelebt haben möge , dessen Leben hat Sinn gehabt. ( Schlick 1927a , 346 )
Schlick versteht ebenso die Kunst von der Jugend her :
Je jugendlicher die Kunst und das Kunstwerk , um so größer ihre Vollkommenheit ; je ältli-
cher , pedantischer , desto häßlicher und sinnloser wird sie. ( Schlick 1927a , 347 )
Wobei er sich wiederum mit Wyneken und Guyau393 ganz eins weiß , die das Ziel dar-
in erblicken , die Schönheit ganz im Leben aufzunehmen und die Kunst überflüssig zu
machen. ( Schlick 1927a , 348 ) Gleichfalls sei die Moral von Spiel und Jugend her zu ver-
stehen :
Aber die wahre Tugend ist heiter , sie entsteht nicht aus dem Druck der Gebote und Zwecke ,
sondern entfaltet sich frei aus dem Wollen. Kindliche Reinheit ist schöner und vollkomme-
ner als heldenhafte Entsagung. ( Schlick 1927a , 350 )
Schlick schließt den Beitrag mit folgenden Worten :
Brauchen wir eine Lebensregel , so sei es diese : „Bewahre den Geist der Jugend !“ Denn er ist
der Sinn des Lebens. ( Schlick 1927a , 354 )
Vom Sinn ist ein Plädoyer für ein weniger sorgend in die Zukunft blickendes Leben , das
sein Ziel bereits im Weg sieht , in selbstgenügsamem , freudigem Tun. Die Vorbilder und
Weggefährten sind : Epikur , Goethe , Schiller , Ruskin , Guyau , Nietzsche , Emerson , Wy-
neken. Auch noch 1927 , auch noch in Wien.
Diese Lebenseinstellung , die weit von der protestantischen Ethik entfernt liegt , hatte
ebenso Carnaps Jugend mit den zahlreichen Festen geprägt. Schlick scheint in seinem Le-
ben erfolgreich darin gewesen zu sein , sich diese Lebenseinstellung zu erhalten : Er galt als
heiterer Mensch , womit ich nicht leugnen will , dass es ihm keinesfalls an den finanziellen
Voraussetzungen hierfür fehlte. Das katholische Wien mag für eine solche Lebensführung
überdies besser geeignet gewesen sein als protestantische Gegenden. Schlick blieb dem
393 Jean-Marie Guyau ( 1854–1888 ) wird als französischer Nietzsche bezeichnet. Guyau entwarf eine Mo-
ral ohne Pflicht und Strafe , in der er die Lebensphilosophie mit dem Positivismus verbinden woll-
te. Besonders sein Esquisse d‘une morale sans obligation ni sanction ( 1884. Dt. Sittlichkeit ohne „Pflicht“ )
wirkte auf Schlick stark. Er zog es bereits in der Lebensweisheit heran und empfahl es noch 1933 Men-
ger zur Lektüre ( vgl. das Menger-Kapitel der vorliegenden Untersuchung ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441