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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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dern der einzig legitime Sinn dieses Satzes sei : „Es gilt in allen Fällen , wo es Anwendung
finden kann , ohne Ausnahme.“ ( Schlick 1930 , 109 ) Die Verwechslung der beiden Begriffe
ziehe sodann die Verwechslung ihrer kontradiktorischen Gegenteile nach sich : Das Ge-
genteil zur Allgemeingültigkeit sei die Gesetzlosigkeit , das Gegenteil des Zwangs Frei-
heit. So komme nun der Unsinn heraus und schleppe sich durch die Jahrhunderte , „Frei-
heit“ bedeute so viel wie „Ausgenommensein vom Kausalprinzip“ oder „den Naturgesetzen
nicht unterstehen“:
So glaubt man den Indeterminismus verteidigen zu müssen , um die menschliche Freiheit zu
retten. ( Schlick 1930 , 109 )
Schlick fasst die Verwechslungen in einer Liste zusammen , in der die links stehenden Be-
griffe durch die rechts stehenden ersetzt werden und die untereinander stehenden eine
Kette bilden , sodass jeweils „die vorhergehende Verwechslung die nachfolgende verschul-
det“ ( Schlick 1930 , 116 ):
Naturgesetz Staatsgesetz
Gesetzmäßigkeit ( Kausalität ) Zwang
( Allgemeingültigkeit ) ( Notwendigkeit )
Gesetzlosigkeit ( Zufall ) Freiheit
( Keine Ursachen ) ( Kein Zwang )
Bleibt somit an der alten Frage gar nichts von Interesse ? War die Frage der Willens-
freiheit ein Problem , das nur verquere , weltentrückte philosophische Köpfe interessieren
konnte ? Schlicks Antwort ist , das Problemfeld enthalte sehr wohl eine Problemstellung
mit praktischer Relevanz , diese sei jedoch eine andere , als im Problem der Willensfrei-
heit angenommen.
Schlicks Freiheitsbegriff : „Freiheit“ ist für Schlick nämlich der Gegensatz von „Zwang“.
Der Mensch sei frei , „wenn er nicht gezwungen handelt , und er ist gezwungen oder un-
frei , wenn er durch äußere Mittel daran gehindert wird , in der Richtung seiner eignen na-
türlichen Wünsche zu handeln“ ( Schlick 1930 , 110 ). Bei Schlick ist Freiheit also die ne-
gative externe Freiheit. Äußere Mittel seien neben offensichtlichen wie Pistolen , Ketten
oder Ähnlichem auch der Einfluss von Alkohol , von Narkotika oder Geisteskrankheiten.
Auch sie verhindern , dass Willensentschlüsse so ablaufen , wie es der „Natur eines Charak-
ters“ eigentümlich ist. Jede( r ) müsse zugeben , der Begriff der Unfreiheit des täglichen Le-
bens , der allein hier maßgeblich sei , etwa der Rechtsprechung , sei damit getroffen.414 Der
414 Juhos setzt sich in dem Aufsatz „Über ‚juristische‘ und ‚ethische‘ Freiheit“ ( 1935 /36 ) ebenfalls mit die-
ser Thematik auseinander. Ethische Freiheit besteht für ihn jedoch nicht in der äußeren Handlungs-
freiheit , sondern in der Fähigkeit , seinen eigenen Wünschen zu widerstehen.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441