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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
312 praktisch. Das von der Forderung gestellte Ziel sei nämlich gleichzeitig dasjenige , das von
Menschen de facto am höchsten gewertet werde. ( Schlick 1930 , 144 )
Die Absage an normative oder wertende Äußerungen ist nicht Schlicks Hauptanliegen ,
und er verweigert sich solchen nicht , in den Fragen sogar weniger als in der Lebensweis-
heit.421 Zeitgenossen wie Feigl war dieser normative Aspekt von Schlicks Fragen geläufig :
Das Buch „Fragen der Ethik“ vereinigt in glücklicher Weise beide Interessenrichtungen [ Le-
bensanschauung und Erkenntnislogik ; A. S. ]. Neben bemerkenswerten Begriffsanalysen fin-
den wir hier ( und zwar auf Grund dieser Analysen und der von Schlick formulierten psy-
chologischen Gesetze menschlichen Wünschens und Handelns ) bedeutungsvolle Maximen
einer weitgehend verfeinerten eudämonistischen Ethik. Schlicks moralischer Imperativ „Er-
halte dich glücksbereit“ enthält , richtig verstanden , eine Mahnung , die unserer Kultur bit-
ter nötig ist. ( Feigl 1937/38 , 395 )
Ebenso hält Kraft 1963 noch fest , Schlick begnüge sich nicht mit einer Psychologie der
Moral. Er habe vielmehr den Gesichtspunkt der Gültigkeit aufgenommen. ( Kraft 1963 ,
10 ) Moralisch sein im Sinne gesellschaftlicher Moral ist für Schlick ein ratsamer Weg zum
Ausschöpfen der eigenen Glücksfähigkeit , wenngleich kein gegen die Unbill des Lebens
gesicherter. Er will neben der Aufklärung verschiedener Gesetzmäßigkeiten der gesell-
schaftlichen Moral die Zusammenhänge dieser Moral mit individuellem Glücksstreben
darlegen. Auch dort , wo er nicht über das Beschreiben hinausgeht , ist das , was er sagt ,
( bei bestimmten Menschen ) handlungswirksam und soll es durchaus sein.422 Nicht anders
als Hume mit seiner Moralphilosophie will Schlick mit den Fragen zur Tugend verfüh-
ren.423 Hierin weicht Schlick vom vorherrschenden Bild logisch-empiristischer Ethik klar
ab. Er bietet einen bestimmten inhaltlichen Vorschlag für die Moral und deren Begrün-
dung , also inhaltliche Ethik in ihrer normativen Version.
9.3.2.6 Logisch-empiristischer Kognitivismus
Was die Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik betrifft , ist zudem die Fra-
ge von großem Interesse , ob Schlick einen metaethischen Kognitivismus oder Nonko-
gnitivismus vertritt. Hierbei geht es zum einen um die Interpretation der sprachlichen
Funktion moralischer Sätze und zum anderen um die Möglichkeit moralischer Er-
421 In einer eigenen Darstellung seiner Philosophie , die Schlick zu Beginn der 1930er-Jahre verfasste ,
hebt er als Konsequenzen eines strengen Empirismus für die Ethik Folgendes hervor : Es habe kei-
nen Sinn , von „absoluten“ Werten zu sprechen. Nur „die bei den Menschen tatsächlich vorgefun-
denen wertenden Verhaltensweisen können Gegenstand der Untersuchung sein“. Aus dem soll sich
eine „neue Begründung einer Art von Eudämonismus“ ergeben , dessen Moralprinzip ungefähr lau-
te : „Mehre deine Glückseligkeit !“ ( Schlick 1950 , 463 )
422 Schon in der Vorbemerkung zur Lebensweisheit zog er den Vergleich zu anatomischen Büchern.
423 Siehe Siegetsleitner 2006.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441