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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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Wir haben bei Schlick also aufgrund der inhaltlichen Komponente sowohl einen se-
mantischen als auch einen erkenntnistheoretischen Kognitivismus. Die inhaltliche Kom-
ponente des WertprĂ€dikats ist fĂŒr Schlick hinreichend , um einen Satz zum TrĂ€ger der
Wahrheitswerte wahr / falsch im ĂŒblichen Sinne zu machen , und Schlick behauptet , dass
moralische SĂ€tze in einer intersubjektiv verbindlichen Weise als wahr / falsch ausgewie-
sen werden können.
Logisch-empiristisches Sinnkriterium : Was aber ist mit dem logisch-empiris tischen
Sinnkriterium , das doch im gĂ€ngigen VerstĂ€ndnis ausschlieĂt , dass Wert- und NormsĂ€t-
ze in den Bereich des Kognitiven fallen ? ZunÀchst gilt es klarzustellen , dass das logisch-
empiristische Sinnkriterium weder nur in einer Formulierung vorgelegt wurde noch die
Formulierungen eine einheitliche Interpretation erfuhren. Die Formulierungen waren
meist vage , vor allem bei Schlick. Er formuliert das SinnkriteriumÂ
â abgesehen von Aus-
fĂŒhrungen in seiner Allgemeinen Erkenntnistheorie und in âErleben , Erkennen , Meta-
physikâ ( 1926 )Â â erstmals 1930 in âDie Wende der Philosophieâ ( Schlick 1930/31 )425 und
1932 in âPositivismus und Realismusâ ( 1932 /33 ) ausfĂŒhrlicher. In âDie Wende der Philo-
sophieâ sagt er :
Der Akt der Verifikation , bei dem der Weg der Lösung schlieĂlich endet , ist immer von der-
selben Art : es ist das Auftreten eines bestimmten Sachverhaltes , das durch Beobachtung ,
durch unmittelbares Erlebnis konstatiert wird. ( Schlick 1930/31 [ 2008 , 217 ])426
425 Mit âDie Wende der Philosophieâ wurde der erste Jahrgang der Erkenntnis eröffnet. Schlick betont
darin sein VerstĂ€ndnis von Philosophie im Sinne des Tractatus als TĂ€tigkeit : âDer Zweck der Philo-
sophie ist die logische KlÀrung der Gedanken. Die Philosophie ist keine Lehre , sondern eine TÀtig-
keit. [ ⊠] Das Resultat der Philosophie sind nicht âphilosophische SĂ€tzeâ , sondern das Klarwerden
von SĂ€tzen.â ( Wittgenstein 1922 , 4. 112 [ 2001 , 56 ]) Damit grenzt sich Schlick von Reichenbachs Auf-
fassung ab , die zudem der Grund dafĂŒr war , dass Schlick eine Mitherausgeberschaft der Erkennt-
nis abgelehnt hatte. Zudem war es eine Antwort auf das Manifest. ( Ferrari 2008 , 102 f. ) Dieses hatte
Schlick ja u. a. wegen des propagandistischen Tons abgelehnt. ( Siehe Kapitel 1 der vorliegenden Un-
tersuchung ) Aus demselben Grunde lehnte er schon die Herausgabe von Neuraths Empirischer So-
ziologie ab. ( Friedl / Rutte 2008c , 481 ) Schlick hielt Neuraths Schreib- und Denkweise insgesamt fĂŒr
dogmatisch : âNâs Schreib- oder Denkweise erinnert schon ein wenig an die Haltung der Philoso-
phen in USSR und im Dritten Reich.â ( Schlick an Louis Rougier , 11. JĂ€nner 1935 , Nachlass Rougier ;
zit. n. Friedl / Rutte 2008d , 562 , Fn. 4 )
426 Als Fundament der Erkenntnis gilt in dieser Version das unmittelbare Erlebnis. Zu verdeckten Wi-
dersprĂŒchen dieser Version und ihren Folgen fĂŒr die Protokollsatzdebatte vgl. Uebel 2007. Auf em-
pirische Hindernisse kam es Schlick im Ăbrigen dabei nicht an. Es ging ihm um die prinzipielle lo-
gische Möglichkeit einer Verifikation. Man sehe hier , so Stöltzner / Uebel , bereits , dass das Verdikt
der Sinnlosigkeit eigentlich sehr wenige SĂ€tze treffe. Als Beispiele fĂŒr prinzipiell sinnlose AusdrĂŒcke
fĂŒhren sie die absolute Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse oder einen niemals beobachtbaren Kern im
Inneren des Elektrons an. ( Stöltzner / Uebel 2006b , XXXI ) Moralische Werturteile fielen fĂŒr Schlick
nicht unter das Sinnlosigkeits-Verdikt.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische KlÀrungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 âWissenschaft und Lebenâ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 âĂberwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Spracheâ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 âTheoretische Fragen und praktische Entscheidungenâ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 SpÀtphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle fĂŒr ein vertrĂ€gliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers EthikverstÀndnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer LebensgrundsÀtze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : EudÀmonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂŒndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂŒndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂŒndung auf Grundlage natĂŒrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂŒndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 MoralbegrĂŒndung auf der Grundlage primĂ€rer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂŒndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂŒrgerinnen oder BĂŒrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂŒnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂŒrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441