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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
318 der Erkenntnis , er sage aber nicht , dass alle Erkenntnis direkt auf diesem Fundament stün-
de. „Nur einige Sätze gelten als Fundamentalsätze , als Kon statierungen.“ ( Müller O. 2008 ,
251 ) Erkenntnistheoretisch ist Schlick wie Quine Holist :
Beide stellen sich die Sache ungefähr so vor : Bringt man genug Hypothesen aus einem Über-
zeugungssystem zusammen , so impliziert deren Konjunktion eine Konstatierung , sie impli-
ziert z. B. , dass es jetzt hier gelb sein muss. Die implizierte Konstatierung lässt sich dann am
Fundament überprüfen , [ … ]. ( Müller O. 2008 , 256 )
Teil des Gesamtrahmens sind auch die Definitionen. Dieser Teil des Systems ist konven-
tionell.430 Ein inhaltlicher Streit kann erst nach den Definitionen einsetzen. Dies gilt bei
Schlick ebenso für den moralischen Teil des Überzeugungssystems. Unter der Vorausset-
zung einer Schlick’schen hedonistischen Definition von „moralisch gut“ lassen sich inhalt-
liche Streitigkeiten durch Konstatierungen entscheiden. Die moralischen Sätze sind in ih-
rer inhaltlichen Komponente wahr oder falsch. Moralische Werturteile waren für Schlick ,
da er sie hedonistisch interpretierte , nicht sinnlos. Es ist für sie ein Unterschied in der
Welt angebbar , mit dem sie wahr oder falsch wären – man kann sich vorstellen , wie die
Welt wäre , wenn der Satz wahr oder falsch wäre
– , sie sind an das Erleben rückgebunden
und prinzipiell intersubjektiv kontrollierbar. Ohne Interpretation oder mit einer ande-
ren Interpretation könnten sie jedoch sinnlos sein. Sowohl Schlicks semantischer als auch
sein erkenntnistheoretischer Kognitivismus setzen die hedonistische Werttheorie voraus.
9.3.2.7 Schlussbemerkungen zu den Fragen der Ethik
Schlick sah im Einklang mit der Standardauffassung der logisch-empiristischen Ethik die
Aufgabe der Philosophie in Begriffs- und Sinnklärung , wobei für ihn die Philosophie in
diesem Tun keine Wissenschaft war , sondern wissenschaftsnah :
Die Philosophie ist tatsächlich überhaupt keine Wissenschaft , d. h. kein System von Er-
kenntnissen , sondern ein Tun , und zwar diejenige ( die Seele alles Forschens bildende ) Tä-
tigkeit , durch welche der Sinn aller zur Erkenntnis nötigen Begriffe erklärt wird. Sie besteht
in den Akten der Sinngebung oder Sinnfindung , die allen in unseren Sätzen auftretenden
Worten erst Bedeutung verleihen ; nur Akte nämlich , nicht etwa Sätze können dies leisten ,
da jeder Satz wieder erläuterungsbedürftig wäre und es so ins Unendliche fortgehen würde.
( Schlick 1934/35 [ 2008 , 527 ])
430 Schlick steht in der Erkenntnistheorie dem Konventionalismus Henri Poincarés nahe. ( Breidenmo-
ser 2008 , 199 ) In die Erkenntnis gehen konventionelle Elemente ein , es gibt keine voraussetzungslose
Erkenntnis. Nach Poincaré enthalten die wissenschaftlichen Tatsachen einen willkürlich gewählten
Rahmen aus Konventionen , „doch wenn dieser Rahmen einmal besteht , können aus rohen Tatsachen
nicht einfach willkürlich wissenschaftliche Tatsachen entstehen.“ ( Breidenmoser 2008 , 203 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441