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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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Empirische Moralwissenschaft wird als legitim erachtet und von Schlick der psycholo-
gischen Disziplin zugeordnet. Das Schlick’sche Verständnis von Begriffs- und Sinnklä-
rung schlieĂźt neben einer Grundlagenarbeit fĂĽr die empirische Ethik jedoch normative
Ethik nicht aus. Bevor in der Moral sinnvoll diskutiert werden kann , muss ein sinnvoller
Sprachgebrauch festgelegt worden sein. Hierbei vertritt Schlick im Unterschied zur vor-
herrschenden Sicht logisch-empiristischer Ethik einen Kognitivismus , ohne zu ignorie-
ren , dass es sich bei der gesellschaftlichen Moral um eine von Gesellschaften geschaffene
Institution handelt , deren Forderungen zwar nicht den Menschen insgesamt von auĂźen
entgegentreten , aber Individuen als Mitglieder einer moralischen Gesellschaft.431
Im Gegensatz zu Mormann halte ich Schlicks späte Position durchaus mit einem „auf-
klärungsorientierten , engagierten wissenschaftlichen Modernismus , wie er etwa im Mani-
fest oder im Vorwort des Aufbaus formuliert wurde“ ( Mormann 2010a , 284 ) vereinbar. Was
wir in Schlicks Fragen vorfinden , ist eine empiristisch-liberal-aufklärerische Moral- und
Ethikkonzeption , deren Aussagen mit den Aussagen der modernen Wissenschaft verein-
bar sein sollten , die die menschliche „Natur“ ernst nimmt , die Begründung moralischer
Sätze an Individuen rückbindet , die absolute Werte , d. h. Werte , die völlig von den Emp-
findungen von Individuen unabhängig wären , verneint und die sowohl gegen einen In-
tuitionismus als elitären Zugang zu moralischen Erkenntnissen auftritt als auch Begrün-
dungen auf der Grundlage metaphysischer oder theologischer Ăśberlegungen ablehnt. Der
Zweck der Moral ist diesem Verständnis nach ein diesseitiger. Moral hat sich am indivi-
duellen LebensglĂĽck zu orientieren , den Menschen zu dienen und findet ihre Rechtferti-
gung nur in Bezug auf individuelle Menschen.
Zudem kommt Philosophinnen und Philosophen in einer empiristisch-liberal-aufklä-
rerischen Moral- und Ethikkonzeption keine besondere moralische Autorität zu. Nichts-
destoweniger können sie als Philosophinnen und Philosophen der Moral als Lebenspra-
xis dienen. Philosophische Beiträge als Begriffs- und Sinnklärung gehören nicht nur zu
den Grundlagen der empirischen Ethik , sondern ebenso zu den Grundlagen der Moral.
Philosophie kann fĂĽr Schlick nicht nur wissenschaftsnah , sondern auch lebensnah sein ,
wie er in „The Future of Philosophy“ ( 1932 ) ausführt :
[ … ] clarification of meaning will be needed very badly also in a great many questions with
which we are concerned in our ordinary human life. Some thinkers , and perhaps some of the
strongest minds among them , may be especially gifted in this practical field. In such instanc-
es , the philosopher may not have to be a scientist – but in all cases he will have to be a man
of deep understanding. In short , he will have to be a wise man. ( Schlick 1932 [ 2008 , 389 ])
431 Kutschera sah , dass Schlick die Ethik zwar als einen Teil der Psychologie bestimmt , ein erheblicher Teil
dieser Untersuchungen jedoch metaethischer Art sei und im letzten Kapitel sich auch normative Aussa-
gen fänden. ( Kutschera 1982 , 41 ) Er sieht Schlick als einen Subjektivisten ( Kutschera 1982 , 63 ) und lehnt
Schlicks Bezugnahme auf die menschliche Gesellschaft als moralische Autorität ab ( Kutschera 1982 , 187 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441