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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
324 Es gäbe gar keinen Zweifel , dass das Böse nur durch Schmerz und Leid definiert werden
könne. Ohne Schmerz und Leid hätte es nie einen Anlass gegeben , „vom Bösen , von Sün-
de und Schuld“ zu sprechen. ( Schlick 1952 , 35 ) Wobei Schlick sich wiederum vom utilita-
ristischen Lust-Unlust-Kalkül distanziert , da sich Gefühle nicht vergleichen und summie-
ren ließen ( Schlick 1952 , 36 f. ), und er sich an herkömmliche , konventionelle Maßstäbe hält :
an die Stelle des sinnlosen Lust-Unlust-Kalküls tritt die Einstellung der menschlichen Ge-
sellschaft , die auf Grund angesammelter Erfahrungen von gewissen Verhaltensweisen oder
Gesinnungen glaubt , daß sie leidbringend sind. ( Schlick 1952 , 37 )
Maßstab der Moral ist also wie in den Fragen der herkömmlich soziale. Die Kultur ist
für Schlick eine moralische Angelegenheit , das Kulturproblem ein moralisches Problem.
( Schlick 1952 , 17 )
Natur und Kultur : Obwohl die Natur für Schlick positiv besetzt ist ,439 heißt dies nicht ,
Kultur werde nun negativ beurteilt. Natur und Kultur erscheinen ihm nicht als zwei ge-
trennte Reiche :
Das entscheidende Merkmal der Kultur ist das Zusammenfassen , Organisieren der Natur-
vorgänge nach einem Plan. ( Schlick 1952 , 26 )440
Als Gegensatz zur Natur werde die Kultur erst dort empfunden , wo sie durch den Miss-
brauch des Verstandes künstlich wirke. Missbraucht werde der Verstand dort , wo er dem
Bösen diene , also zur Zufügung von Schmerz und Leid verwendet werde. ( Schlick 1952 ,
34 ) So viel ( geplante ) Veränderung auch stattfinde und die menschlichen Einrichtungen
sich ganz und gar verändert hätten , bleibt Schlick sich sicher , so seien die Menschen selbst
doch dieselben geblieben. ( Schlick 1952 , 29 ) Hier wird Feigl ansetzen. ( Vgl. das Feigl-Ka-
pitel der vorliegenden Untersuchung )
Schlick sieht in der Kultur ein dreifaches Leiden : ( 1 ) ein Leiden am Dasein , ( 2 ) ein
Leiden aus Liebesnot und ( 3 ) ein Leiden aus Geistesnot. Leiden am Dasein finde dort
statt , wo die nötigen Mittel zur Existenz fehlten und das Leben gefährdet sei. Die Lie-
besnot sieht er zum einen in einer Auflösung der ihm noch immer so wichtigen Liebe
„in oberflächliche sexuelle Beziehungen“ und zum anderen in der Ignoranz von Sitte und
Recht echter Liebe gegenüber. Die Geistesnot zeige sich dort , wo das für Schlick ansons-
ten freie Reich des Geistes durch künstliche Institutionen „eingehegt und verunstaltet“
werde. ( Schlick 1952 , 39 f. )
439 Und somit für ihn die Lehre Kants , die Moral sei nichts Natürliches , eine Beleidigung der Natur
darstellt. ( Schlick 1952 , 18 )
440 Hier kommt wiederum Carlyles Definition des homo sapiens zu Ehren. ( Siehe oben 9. 2. 2.8 ). Kri-
tisch äußert sich Schlick hingegen zu Spengler. ( Schlick 1952 , 27–33 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441