Page - 344 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 344 -
Text of the Page - 344 -
10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
344 Kraft betont wiederholt , eine Auszeichnung , wie sie durch Wertbegriffe erfolgt , meine
keine rein individuelle Auszeichnung :
So treten zwei ganz verschiedene Arten von Wertung auseinander : die praktische Wert-
haltung und die Wertzuschreibung durch Wertbegriffe , die Wertaussage. Eine Prädikati-
on durch Wertbegriffe setzt eine unpersönliche , objektive Auszeichnung. Die unbegriffliche
Werthaltung setzt eine bloß subjektive Auszeichnung voraus. Sie besteht darin , daß jemand
weiß , daß ein Gegenstand für ihn eine besondere Bedeutung hat , das ist seine Stellungnah-
me bestimmt , wie z. B. ein Erbstück , das jemand werthält. ( Kraft 1937 , 57 )
Überindividuelle Werturteile drückten weder eine volitionale noch eine emotionale Stel-
lungnahme aus.477 Sie seien im Unterschied zu Stellungnahmen und Werthaltungen ( von
ihrem Sinngehalt und Anspruch her ) anonym , unpersönlich und allgemein. In ihnen for-
dert eine unpersönliche Instanz , die ihre Forderung an eine Allgemeinheit ( die beschränkt
sein kann ) richtet.478 Mit Werturteilen befinden wir uns nach Kraft immer im Bereich des
Überindividuellen.479
Ob eine Auszeichnung , mit der ein bestimmtes Subjekt nur von sich eine bestimm-
te Stellungnahme fordert oder eine solche von anderen nur aufgrund einer eigenen Stel-
lungnahme , sprachlich durch Wertbegriffe adäquat ausgedrückt werden könne , geht aus
Krafts Formulierungen nicht klar hervor. Seine Formulierungen schwanken deshalb hin-
sichtlich der Frage , ob es sich beim sprachlichen Ausdruck individuell-subjektiver Aus-
zeichnungen um Werturteile handelt oder nicht , d. h. ob die Werturteilskategorie „indivi-
duelles Werturteil“ in seiner Theorie Platz findet oder nicht.
Unabhängig von dieser allgemeinen wertphilosophischen Frage nach dem angemesse-
nen Begriffsumfang von „Werturteil“ steht für Kraft fest , dass im Unterschied zu indivi-
Öfteren , ohne dessen Theorie jedoch jemals genauer zu untersuchen. Zum Wertbe griff beim frühen
Meinong siehe beispielsweise Schuhmann 1996 , zur Wertpräsentation bei Meinong auch Baumgart-
ner 1996.
477 Deshalb hält Kraft Schlick entgegen , Güte und Mitleid seien noch nicht Sittlichkeit. ( Kraft 1940 ,
201 )
478 In der Wertlehre sind Werturteil und Normurteil für Kraft noch eng verbunden. „Wenn man das , was
ein Werturteil meint , umschreibend auseinanderlegt , so kann es nur in der Weise geschehen , daß man
es durch eine Forderung , ein Sollen wiedergibt.“ ( Kraft 1951 , 199 ) Die Forderung ist Teil des Wert-
urteils. Später ist Kraft der Ansicht , die Forderung müsse zum Werturteil extra hinzutreten. Dar-
auf werde ich hier nicht weiter eingehen. Was in dieser Frage das Verhältnis zum südwestdeutschen
Neukantianismus angeht , so ist darauf hinzuweisen , dass für Windelband und Rickert nicht mit al-
len Werten ein Sollen verbunden ist.
479 Albert analysiert in Anlehnung an Kraft das Werturteil „Die Verteilung des Sozialprodukts im Lan-
de L und im Zeitraum Z ist ungerecht“ als ungefähr gleichbedeutend mit „Die betreffende Vertei-
lung ist so beschaffen , daß sie einem bestimmten Prinzip nicht entspricht , das anzuerkennen ist , so
daß es angebracht ist , dagegen Stellung zu nehmen“. ( Albert 2000 , 45 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441