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10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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duellen Stellungnahmen und Werthaltungen in moralischen Urteilen durch den Hinweis
auf eine Sachkomponente Objekte unpersönlich und allgemeinverbindlich ausgezeichnet
werden. Das heißt , in moralischen Urteilen wird von einer überindividuellen Instanz von
allen – mit Verweis auf eine bestimmte Sachkomponente – eine bestimmte Stellungnah-
me diesen Objekten gegenüber gefordert :
Ein Werturteil ist [ … ]: die Anweisung einer Stellungnahme zu einem Gegenstand , allgemein und
anonym , nicht von einer bestimmten Person für bestimmte Personen. ( Kraft 1937 , 164 )
In einem Wertbegriff kommt nach Kraft nicht ein Sachgehalt zu einer Stellungnahme ,
sondern ein Sachgehalt zu einer überindividuellen Auszeichnung , die von allen eine be-
stimmte Stellungnahme , d. h. eine Bereitschaft im Gefühls- und Strebensbereich , fordert.
Wenn ein moralisches Urteil die Forderung einer bestimmten Stellungnahme an alle ei-
nes Kreises ist , dann kann jemand dieses Kreises dem Urteil zustimmen , ohne damit aus-
zudrücken , auch selbst bereit zu sein , die geforderte Stellungnahme zu vollziehen. Die Ur-
teilende akzeptiert mit dem Urteil ja lediglich , dass eine bestimmte Stellungnahme von
ihr gefordert wird. Sie kann das Urteil teilen , ohne in der Stellungnahme ( bereits ) mit
von der Partie zu sein. Dieses Verständnis wird in der Wertlehre vermittelt. Eine Stelle in
Der Wiener Kreis , dies soll hier nicht unerwähnt bleiben , hält jedoch eine andere Inter-
pretationsmöglichkeit offen :
Ein Werturteil bringt aber nicht bloß die persönliche Stellungnahme des Urteilenden zum
Ausdruck , sondern schließt auch die Aufforderung zu einer ebensolchen Stellungnahme an
den Verstehenden ein. Denn ein Werturteil will nicht bloß ein subjektives Bekenntnis sein ,
sondern es erhebt den Anspruch auf allgemeine Geltung. ( Kraft 1950b [ 1968 , 171 ])
Diesem Verständnis zufolge geht ein Werturteil über eine Stellungnahme der / des Ur-
teilenden zwar hinaus , schließt eine solche jedoch wie auch im Falle einer Werthaltung
mit ein.
Krafts Terminologie ist in diesem Untersuchungsbereich nicht sehr präzise. Neben
den nicht gänzlich geklärten Verhältnissen von Stellungnahmen , Wertungen , Wert-
haltungen , Wertschätzungen und Werturteilen zueinander weist Kraft bei Werturtei-
len zu wenige Variablen aus , in Hinblick auf welche sich Unterkategorien bilden ließen ,
nicht zuletzt hinsichtlich der Frage individueller Werturteile , die sich von Werthaltun-
gen insofern unterscheiden , als sie keine Stellungnahme umfassen , diese jedoch von be-
stimmten Individuen fordern. Schwankende Formulierungen in Krafts Werk ( und damit
mögliche unterschiedliche belegbare Interpretationsvarianten ) lassen darauf schließen ,
dass Kraft sich über seine eigene Position in diesen Fragen im Unklaren war bzw. hier-
bei schwankte.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441