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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
352 Stellungnahme auffordert. In Abhebung von Stevenson
– den Kraft selbst nicht erwähnt
–
befinden wir uns mit Kraft auch dort , wo es um die Beeinflussung der Adressatinnen und
Adressaten geht , im Bereich des Überindividuellen. Es handelt sich nie bloß um die Auf-
forderung der jeweils individuellen Sprecherinnen oder Sprecher.487 Kraft lehnt von den
metaethischen Theorien sowohl jene ab , die in den moralischen Wertbegriffen keinerlei
Sachkomponente sehen , als auch jene , die den überindividuellen Charakter von morali-
schen Urteilen nicht fassen können. Nach Krafts Analyse umfassen moralische Wertbe-
griffe eine kognitive Komponente , weshalb seine Theorie in meiner Terminologie eine ko-
gnitivistische zu nennen ist.
Für Kraft sind moralische Werturteilssätze sinnvolle Sätze.488 Da für ihn der Sinn eines
Satzes durch das Vokabular und die Grammatik einer Sprache bestimmt wird , hängt es
von den semantischen und syntaktischen Regeln für eine Sprache ab , ob ein Satz sinnvoll
ist oder nicht. ( Kraft 1950b [ 1968 , 36 ]) Metaphysische Sätze hält er deshalb nicht schlecht-
hin für sinnlos , sondern lediglich in Bezug auf die Sprache des Empirismus. ( Kraft 1950b
[ 1968 , 37 ]) Werturteilssätze sind sinnvoll , wenn sie gemäß der Grammatik gebildet wur-
den und das Vokabular bedeutungsvoll ist. In den Wertbegriffen sei der sachliche Gehalt
sinnvoll , aber auch der Wertcharakter :
Der Wertcharakter legt eine derartige Stellungnahme fest. Er ist etwas Nicht-theoretisches :
ein Signal für das praktische Verhalten. Dadurch ist auch die Bezeichnung des Wertcharak-
ters sinnvoll ; man weiß , wie sie zu verwenden ist.
Die Zuschreibung eines Wertcharakters an einen Gegenstand oder einer Gegenstandsklas-
se macht das Werturteil aus. Werturteile sind somit im Ganzen sinnvoll , nicht nur in ihrem
deskriptiven Gehalt. ( Kraft 1950b [ 1968 , 170 f. ])
Aufgrund des Wertcharakters will Kraft – im Unterschied zu Schlick – bei Werturteilen
insgesamt jedoch nicht von Falschheit oder Wahrheit sprechen , sondern von Gültigkeit :
Aber sofern es einen Wertcharakter aussagt , gerade als Wertung im reinen Sinn , sagt ein Wert-
urteil keinen Sachgehalt aus. Das ist ein Punkt von fundamentaler Bedeutung.
Denn gibt ein Werturteil eine Anweisung und nicht eine Darstellung , dann kann es auch nicht
wahr oder falsch sein. Denn Wahrheit oder Falschheit kommt nur Aussagen eines Sachgehaltes
487 Albert mag dasselbe monieren , wenn er gegen Stevenson vorbringt , er ignoriere bei Werturteilen die
Bezugnahme auf allgemeine Prinzipien. ( Albert 1972 , 139 ff. )
488 Kraft vertritt nicht die Verifizierbarkeit als allgemeines Sinnkriterium. Dazu u. a. Kraft ( 1950b [ 1968 ,
27 f. ]).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441