Page - 353 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 353 -
Text of the Page - 353 -
10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
353
zu. Anweisungen , Befehle , Forderungen , Normen haben eine andere Legitimation : sie sind
nicht wahr , sondern gültig. ( Kraft 1937 , 165 )489
Werturteile als Ganzes können also weder wahr noch falsch sein , weshalb Kraft keinen
engen semantischen Kognitivismus vertritt. Sie können jedoch gültig oder ungültig sein ,
und im Falle spezifischer Werturteile wie der moralischen aufgrund der Sachkomponen-
te auch richtig oder falsch bzw. richtig oder unrichtig. Auch diese Terminologie verwen-
det Kraft häufig. Versteht man unter einem metaethischen Kognitivismus ( abweichend
von meiner Terminologie ) die Position , dass alle moralischen Wert- und Normsätze wahr
oder falsch sind ( im üblichen Sinn dieser Wörter ), so vertritt Kraft keinen Kognitivismus.
Versteht man zudem unter „Nonkognitivismus“ die Negation des Kognitivismus , so ist
Kraft ein Nonkognitivist. Diesem wurde seine Position auch häufig zugeordnet , z. B. von
Radler ( 2006 , 219 ), Vollbrecht 2004 und Rutte 1986.
Andererseits enthält in moralischen Urteilen der Wertbegriff auch einen Sachgehalt.
Abgesehen davon , dass auch vermöge des sachlichen Gehalts Werturteile in logischer Be-
ziehung zueinander stehen können ( man kann zum Beispiel Unverträglichkeit zwischen
ihnen feststellen oder aus allgemeinen spezielle Werturteile logisch ableiten ( Kraft 1950b
[ 1968 , 170 ])), können moralische Werturteile vermöge des sachlichen Gehalts auch wider-
legt , als falsch erwiesen werden. Wenn sich beispielsweise herausstellt , dass eine Hand-
lung , die als „moralisch gut“ beurteilt wird , unter Annahme obigen Urteilskriteriums gar
nicht der allgemeinen Begehrensbefriedigung ohne individuelle Ausnahme dient. Das Ur-
teil ist dann als falsch erwiesen. Diese Widerlegung bezieht sich aber nicht auf den Wert-
charakter , sondern allein auf den Sachgehalt.490 In diesem liegt dann der Irrtum :
Ein Werturteil heißt nur deshalb falsch , weil der zugrunde gelegte Sachverhalt falsch ( unzu-
treffend ) ist. ( Kraft 1937 , 166 )
Dieser Fall liege auch bei unterschiedlichen Werturteilen von Laien und Kennerinnen
oder Kennern vor :
Weil ein Urteil über den Eindruck des unverstandenen Objektes für eine Beurteilung des sach-
gemäß aufgefaßten Objektes ausgegeben wird , also weil sich eine Wertung auf einen ganz an-
deren Gegenstand bezieht als den , auf den es ankommt , darum ist sie unrichtig. ( Kraft 1937 , 166 )
489 Als Fußnote verweist Kraft hier auf Carnap : „Ein Werturteil hat keinen ‚kognitiven‘ ( beschreiben-
den , darstellenden ) Gehalt , sondern einen ‚expressiven‘ ( zum Ausdruck bringenden ) in der Termi-
nologie Carnaps [ … ].“ ( Kraft 1937 , 165 , Fn. 1 ) Wobei Kraft nicht Carnaps Individualismus teilt.
490 In der 2. Auflage verweist Kraft in diesem Zusammenhang auf Ayers Language , Truth and Logic ( 1946 ,
111 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441