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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
360 ließe sich nicht bestimmen , was zur Kultur unbedingt gehöre. Kraft beendet 1937 diese
Überlegungen deshalb mit der ( rhetorischen ? ) Frage : Was sollte das Kriterium hierfür
sein ? ( Kraft 1937 , 195 , Fn. 1 )
Besonders für den Altruismus sieht Kraft das Problem , dass er keine Lebensnotwen-
digkeit für den Einzelnen sei. ( Kraft 1937 , 197 ) Sich auf den Standpunkt des andern zu
stellen und aus dessen Perspektive zu urteilen , dafür gebe es keinen egoistischen Grund.
Das dürfe nicht verkannt und nicht verschleiert werden. ( Kraft 1937 , 199 ) Aber auch ein
Bedürfnis nach dem Erhalt der Gesellschaft würde letztlich nur eine bedingte , individu-
ell-relative Begründung liefern. Kraft glaubt jedoch , im Falle der Moral eine Begründung
aufweisen zu müssen , die nicht eine individuelle Entscheidung zu ihren Grundlagen zählt.
Eine Moral lässt sich nach Kraft 1937 nicht dadurch ( als gültig ) begründen , dass ihre Ur-
teile für jede und jeden je individuell gültig sind.
3. Überindividuelle Gültigkeit aufgrund sozialer Anerkennung : Deshalb geht Kraft von der
individuellen Wertung auf eine kollektive über , die individuellen Wertungen überindivi-
duelle Geltung verleiht oder abspricht. Dies sei vor allem im Bereich der sittlichen Wer-
tungen wichtig. Da Menschen neben ihrem individuellen auch ein gemeinsames Leben
als Glied eines sozialen Ganzen führten , würde sich auch der Gesichtspunkt des sozialen
Ganzen für die Bewertung geltend machen und die individuellen Wertungen würden ei-
ner sozialen Kontrolle unterliegen , die dadurch eine höhere Instanz für deren Gültigkeit
darstelle. Die überindividuelle Legitimation komme dadurch zustande , dass Wertungen
von Gliedern eines sozialen Verbandes gegenseitig anerkannt würden :
Wer im Namen der Gesamtheit reden kann , der steht nicht mehr als ein Privatmann da , son-
dern als Sprecher einer überindividuellen Instanz. ( Kraft 1937 , 202 )500
Kollektive Werte kämen zum einen dadurch zustande , dass die überwiegende Mehrzahl der
Glieder eines sozialen Verbandes in ihren grundsätzlichen Wertungen übereinstimmte. Wo
Individuen gleichartig sind ( aufgrund gleicher Erbanlagen , eines gemeinsamen Lebensrau-
mes , gemeinsamer Geschichte und eines gemeinsamen Kulturkreises und gemeinsamer Kul-
turstufe ), würden sich auch gleiche Wertungen ergeben. ( Kraft 1937 , 203 ff. ) Kraft ist über-
zeugt , dass die individuelle Eigenart nur innerhalb der generellen Gleichförmigkeit variiert :
Originale sind selten , und noch seltener die Genies. ( Kraft 1937 , 209 )501
500 Im Unterschied zu Locke , der auch ( manche ) Religion als legitime überindividuelle Instanz aner-
kennt , lehnt Kraft dies ab. Die Religion sei eine Sache des Glaubens und würde nicht allgemein gel-
ten. ( Kraft 1937 , 203 )
501 Diese kollektiven Wertungen „betreffen immer Gegenstände einer Welt , die für alle dieselbe ist“,
seien es körperliche Gegenstände , sich in der gemeinsamen Außenwelt manifestierendes Verhalten
oder geistige Gegenstände wie Bücher , die allen zugänglich sind und gemeinsam verstanden werden.
( Kraft 1937 , 207 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441