Page - 361 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 361 -
Text of the Page - 361 -
10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
361
Zum anderen beruhten kollektive Wertbildungen auf den Urteilen von Kennerinnen und
Kennern. Wer nicht mitreden kann , dessen Wertung komme eben nicht zur Geltung.
( Kraft 1937 , 209 ) Allgemein vollziehe sich eine kollektive Wertung unter dem Einfluss
von Führungspersönlichkeiten ( Religionsstiftern , Propheten , politischen Führern , Pries-
tern sowie Gelehrten , Künstlern , Dichtern und Schriftstellern )502 und durch jene , die
durch ihre soziale Stellung , ihr Herkommen , ihre Funktion oder durch sichtbare Macht
und Reichtum besonders einflussreich sind. ( Kraft 1937 , 210 f. )
Der überindividuelle Charakter der kollektiven Wertungen : Kollektive Wertungen sind bei
Kraft jedoch nicht einfach Wertungen der größeren Zahl , sondern sie werden zur Norm.
Diese Funktion sei ein Merkmal ihres überindividuellen Charakters , für den die Öffent-
lichkeit eine wesentliche Rolle spielt :
Der wirksamste Träger dieser Billigung und Mißbilligung ist die Öffentlichkeit. ( Kraft 1937 ,
212 )
Diese Öffentlichkeit zeigte sich ehemals am Markt , nun komme sie in politischen Ver-
sammlungen , im Theater , auf der Kanzel , in gedruckten Publikationen sowie im Radio
zum Ausdruck. Was in der Öffentlichkeit überwiegende Zustimmung findet , habe die öf-
fentliche Anerkennung. ( Kraft 1937 , 212 ) Überindividuell seien die kollektiven Wertungen
auch in ihrem Inhalt , insofern nur Inhalt sein könne , was den sozialen Verband gemein-
sam oder zumindest eine größere Zahl angeht. ( Kraft 1937 , 213 )
Ein kollektives Werturteil tritt mit dem Anspruch auf , dass jede( r ) es als individuelle
Werthaltung übernimmt. Es fordert allgemeine Anerkennung.
Kollektive Werte sind nicht absolut : Der Einzelne finde zwar feste , sozial herrschende ,
traditionelle überindividuelle Werte vor , diese jedoch als absolute Werte mit Geltung für
alle Zeiten und Völker zu betrachten , sei ein Irrtum :
Was als absolute Werte präsentiert wird , läßt sich unschwer als die Tafel der traditionellen ,
herrschenden Wertungen eines bestimmten Volkes und einer bestimmten Zeit erkennen. Sie
tragen das Gepräge einer bestimmten Kultur und historischen Entwicklungsstufe. Es sind die
Wertungen , die einem Volk und einer Zeit selbstverständlich geworden sind. ( Kraft 1937 , 215 )
Sozial herrschende Werte seien darüber hinaus nur dort gemeinsam , wo eine soziale
Wechselwirkung möglich sei ( vgl. dazu auch Schlick ): in einem Volk , einem Sprachge-
biet , einem Kulturkreis , einer geistigen Epoche ( z. B. der Aufklärung ). Wobei Werte sich
selbst innerhalb eines solchen Verbandes mit der Zeit wandelten. ( Kraft 1937 , 215 f. ) Je dif-
ferenzierter ein sozialer Verband , umso mehr gingen die Interessen und damit die Wer-
tungen dabei auseinander , wobei Kraft dennoch überzeugt ist :
502 Ob Kraft Frauen in diesen sozialen Rollen anerkannte , muss hier offen bleiben.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441