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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
364 2. Es geht ihm um die Begründung der sozialen Moral , d. h. jener , der es um das
Zusammenleben in einer sozialen Einheit geht. Die individuelle Moral als die
Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens steht nicht zur Diskussion. Das Vor-
handensein einer solchen Moral stellt zwar Kraft auch in dieser frühen Schrift
nicht in Abrede , er hält sie jedoch zu dieser Zeit für nicht von philosophischem
Interesse. ( Kraft 1940 , 195 )
3. Eine erfolgreiche Moralbegründung muss Gründe aufweisen , die allgemeinver-
bindlich sind. Gründe , die von individuellen Zielsetzungen abhängen , sind nun
ausdrücklich nicht mehr zulässig.
Kraft sieht hier zunächst folgende Möglichkeiten : ( 1 ) Entweder lassen sich die morali-
schen Normen aus allgemein anerkannten oder anzuerkennenden Grundnormen ablei-
ten , oder ( 2 ) sie lassen sich als Mittel für allgemein vorhandene [ bzw. anzuerkennende ;
A. S. ] Ziele darlegen. ( Kraft 1940 , 195 ) Dies sind die bekannten Argumente von 1937 mit
dem Unterschied , dass die Anerkennung der Grundnormen bzw. der Zielsetzungen nicht
mehr individueller Entscheidungsfreiheit unterliegen dürfe. Die Berufung auf logische
und naturgesetzliche Notwendigkeit muss nun durch eine weitere Notwendigkeit ergänzt
werden. Zur Zweck-Mittel-Ratio
nalität im teleologischen Argument tritt eine Zielrati-
onalität hinzu.
Eine Begründung über allgemein anerkannte oder anzuerkennende Grundnormen
scheidet Kraft sogleich aus :
Was als absolute Norm , als kategorischer Imperativ erscheint , ist aber nichts anderes als die
traditionelle Moral , solange sie noch unerschüttert und darum selbstverständlich ist. ( Kraft
1940 , 195 f. )
Er hält deshalb eine „Begründung der Moral durch Zurückführung auf allgemein giltige
Normen“ für unmöglich. ( Kraft 1940 , 196 )504
Also bleibt nach Kraft zunächst noch die Möglichkeit , die Anerkennung moralischer
Normen als Mittel für allgemein anerkannte bzw. anzuerkennende Ziele zu prüfen. Wie
steht es um Zweck-Mittel-Argumente für die Allgemeingültigkeit von Normen ? Kraft
nimmt mit folgender Argumentform wieder auf eine allgemeine Handlungsrationalität
Bezug :505
504 Kraft verwendet neben „gültig“ auch die ältere Sprachvariante „giltig“.
505 Insofern als nicht moralisches Handeln damit irrational wäre , könnte eine erfolgreiche Moralbegrün-
dung dieser Art zu den rationalen Ethiken gezählt werden. 1940 verwirft Kraft diese Möglichkeit je-
doch noch.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441