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10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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1. Wenn ein Mensch ein Ziel z erreichen will , hat er einen sachlichen Grund ,
praktisch notwendige Mittel für die Erreichung von z zu wollen.506
2. Alle Menschen wollen das Ziel z erreichen.
3. a. Es ist praktisch notwendig , dass x die Norm n befolgt , um z zu erreichen
( Oder : b. Es ist praktisch notwendig , dass alle Menschen die Norm n befolgen ,
um z zu erreichen. )
Daher :
4. a. Alle Menschen haben einen sachlichen Grund zu wollen , dass sie selbst die
Norm n befolgen. ( Oder b. Alle Menschen haben einen sachlichen Grund zu
wollen , dass alle Menschen die Norm n befolgen. )
Kraft bedient sich der Argumentform in beiden Varianten. In Variante 1 heißt , dass eine
Person x eine Norm n anerkennt , x will , dass x selbst n befolgt. In Variante 2 heißt , dass
eine Person x eine Norm n anerkennt , x will , dass alle n befolgen.
Ist die Befolgung moralischer Normen praktisch notwendig ( d. h. ein aufgrund der Na-
turgesetze und konkreter Bedingungen unentbehrliches Mittel ), um allgemein menschli-
che Ziele zu erreichen ? 1940 verwirft Kraft alle überlegenswerten Kandidaten für ein sol-
ches Begründungsverfahren.
Durch Argumente , die sich auf biologische Ziele der Menschen ( nach Nahrung ,
Schutz , Lustgewinn usw. ) zur Begründung stützen , ließen sich zwar wirtschaftliche , tech-
nische oder hygienische Vorschriften ableiten. Diese hätten jedoch mit Moral nichts zu
tun. ( Kraft 1940 , 197 )507
Sie [ eine so begründete Moral ; A. S. ] kann nichts anderes enthalten als Vorschriften für eine
rationelle Befriedigung der leiblichen und seelischen Lebensbedürfnisse. ( Kraft 1940 , 198 )
Auf der gleichen Überlegung beruht Krafts noch andauernde Ablehnung kultureller Ziele
zur Begründung einer allgemeinverbindlichen Moral. Zwar sei die Kultur eine unabweis-
bare Forderung an die Menschen , doch seien die daraus zu gewinnenden Normen wiede-
rum keine , die man gewöhnlich der Moral zuordne. Die moralischen Normen dürfen ja
nicht Teil dieser Kultur sein , ansonsten wäre die Begründung zirkulär. ( Kraft 1940 , 199 )
Kulturziele als Grundlage der Begründung moralischer Normen werden nun im Unter-
506 „Wenn jemand eine Absicht verwirklichen will und die Bedingung dafür erkannt hat , der muß die-
se Bedingung verwirklichen wollen , weil er sonst die Absicht nicht erreicht.“ ( Kraft 1968 , 108 ) Ota
Weinberger ( 1972 , 72 ff. ) hat zu Recht darauf hingewiesen , eine Zweck-Mittel-Relation könne sehr
komplex sein ( wenn es beispielsweise mehrere taugliche Mittel gibt ). Auf dieses Problem ist Kraft
nie eingegangen und seine Formulierungen schwanken zwischen tauglichen und notwendigen Mit-
teln. Ebenso wenig wurde von Kraft thematisiert , wie bei unerwünschten Mitteln zu verfahren sei.
507 „Solche Vorschriften zur Erreichung der biologischen Ziele haben aber nur zum geringsten Teil den
Charakter dessen , was man gewöhnlich als moralische Normen betrachtet.“ ( Kraft 1940 , 197 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441