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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
370 men oder ein Zweck-Mittel-Argument verzichten zu können bzw. für eine erfolgreiche
Moralbegründung zu müssen. Auch wenn wir eine Gattungsgleichheit in Bezug auf be-
stimmte Ziele feststellen würden , so würde dieses Vorhaben daran scheitern , dass in den
Prämissen eine Forderung ein gegangen ist , die irrtümlich als eine Einsicht in eine Tatsa-
che genommen wurde.
Kraft bietet kein überzeugendes Begründungsargument für die altruistisch-egalitaristi-
sche Moral , sondern zeigt lediglich , dass , wer den Wechsel von einer individuellen zu ei-
ner überindividuellen Perspektive vollzogen hat , das Verfolgen bestimmter Ziele ( Befrie-
digung vitaler Bedürfnisse etc. ) aller in Bezug auf sein und das Handeln anderer gleich
berücksichtigen muss. Manfred Moritz schließt seine Rezension von 1941 deshalb mit fol-
gender Bemerkung :
Geht man vom Egoismus aus , dann kann man den Altruismus nicht beweisen , geht man vom
Altruismus aus , so braucht man ihn nicht zu beweisen. ( Moritz 1941 , 267 )
Kraft hat 1942 in Theoria auf diese Einwände selbst geantwortet :
Die Kritik , die meine Abhandlung über Moralbegründung in „Theoria“ VI erfahren hat ,
trifft in ihrem Hauptpunkt durchaus zu. Aus dem Gattungsgesichtspunkt d. i. aus der gene-
rellen Gleichartigkeit der Individuen und ihrer Ziele lässt sich die Forderung einer gleichar-
tigen Erreichung dieser Ziele durch alle Gattungsglieder nicht logisch ableiten. Diese Ein-
sicht hat sich mir schon vor einem Jahr , bald nach der Veröffentlichung der Abhandlung in
einem Briefwechsel mit Professor Gomperz ergeben. [ … ] Der Gattungsgesichtspunkt ent-
hält nur die Tatsachen-Erkenntnis , dass ich mit anderen von gleicher Art bin , auch hinsicht-
lich gewisser triebbestimmter Ziele , und dass jeder so wie ich diese seine individuellen Ziele
erreichen will. Dass jeder in gleicher Weise seine Ziele erreichen soll , ist hingegen eine For-
derung , keine Tatsachen-Erkenntnis. Diese Forderung betrifft etwas ganz Neues : Die Ziel-
Erreichung für alle , nicht bloss für mich allein. Und diese neue Forderung ist weder eine tat-
sächlich allgemeine noch durch Generalisierung des tatsächlich allgemeinen Verlangens der
individuellen Ziel-Erreichung zu gewinnen und auch nicht auf Grund der Gattungsgleich-
heit abzuleiten. ( Kraft 1942 , 154 f. )511
Wenn dies das einzig mögliche Argument zur Begründung der altruistisch-egalitaristi-
schen Moral darstellt , dann hat Kraft höchstens gezeigt , welche zusätzlichen Prämissen
noch Voraussetzung einer altruistisch-egalitaristischen Position sind. Kraft sah dies als
Verdienst :
511 Nur ein Gleichinteressierter ( z. B. ein Gott , der alle Menschen als seine gleichwertigen Kinder be-
trachtet ) hat dieses Ziel.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441