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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
372 ganz klar den Versuch eines Mittelweges , der die subjektive Grundlage von Werturteilen
beibehalten will , ohne auf eine objektive Begründung verzichten zu müssen.
In weiten Teilen stimmt die zweite Auflage der Wertlehre mit der ersten Auflage von
1937 überein. Neben der Berücksichtigung neuerer relevanter Literatur ( z. B. Dewey 1939
und Ayer 1946 , der 2. Auflage von Language , Truth , and Logic ), der Verschiebung einiger
Passagen und kleineren Ergänzungen bringt die 2. Auflage jedoch für die Begründungs-
thematik eine wesentliche Änderung : Lehnt Kraft 1937 in einer Fußnote die Auffassung
Cohns , kein Mensch könne die Kultur ernsthaft ablehnen , entschieden ab , so behauptet
er dies 1951 nun ausdrücklich , ohne übrigens Cohn noch zu erwähnen. 1937 hatte Kraft
hierzu noch bemerkt : Ohne dogmatisch zu sein , ließe sich nicht bestimmen , was zur Kul-
tur unbedingt gehört. Was sollte auch das Kriterium hierfür sein ? ( Kraft 1937 , 195 , Fn. 1 )
Andererseits hat sich gezeigt , dass Kraft bereits 1940 in „Über Moralbegründung“ be-
hauptete , kein Mensch könne die Kultur ernsthaft ablehnen. Der Bezug auf kulturelle
Ziele schien ihm zu dieser Zeit aber nicht tauglich für eine Moralbegründung , da die da-
raus ableitbaren Normen keine moralischen wären. 1951 soll eben diese Bezugnahme auf
die Kultur nun jedoch leisten , was nicht einmal ein individueller oder sozialer Lebens-
wille in der ersten Auflage und der Gattungsgesichtspunkt in „Über Moralbegründung“
leisten konnten.
Nun scheint Kraft klar geworden zu sein , was zum „Wesen“ der Kultur ( und letztlich
des Menschen ) gehört. Grundlagen , die er 1937 noch als dogmatische Setzungen abge-
lehnt hätte , werden nun ins Treffen geführt , und zwar nicht zuletzt ausdrücklich für eine
Moralbegründung :
Es gibt somit jedenfalls überindividuelle Wertungsgrundsätze , die man anerkennen muß , so-
bald man im Verein mit anderen als Kulturmensch leben will. Der Grund für ihre Allgemein-
gültigkeit liegt in der Unentbehrlichkeit für die Kultur , in der sich die spezifisch menschli-
chen Fähigkeiten entfalten. Auf diese Weise kann der Wert der Wirtschaft und der Technik ,
des Rechtes und der Moral , der Bildung und des Unterrichts , der Kunst und der Wissen-
schaft als allgemeingültig begründet werden. ( Kraft 1951 , 255 )
Kraft setzt nun für die Gesamtmoral auf eine Zweck-Mittel-Argumentation , in der die
Anerkennung der moralischen Werte als notwendiges Mittel zur Erhaltung der Kultur
ausgewiesen wird und die Erhaltung der Kultur von jedem Menschen als Ziel anerkannt
werden muss :
Es gibt aber auch solche [ Wertungsgrundsätze ], die allgemein anerkannt werden müssen , weil sie
die Kultur begründen. Das sind die Wertungsgrundsätze für die Bestimmung der Grundwer-
te und der grundsätzlichen Unwerte. Die Anerkennung der Kultur , dessen , was für sie we-
sentlich ist , bildet das Fundament für die rationale Begründbarkeit und Allgemeingültigkeit
von Wertungen. ( Kraft 1950a , 117 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441