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10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
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zugleich umgeprägt und als rationales System formuliert. Er habe damit auch Wert-Set-
zung betrieben , und dies sei mehr , als rein wissenschaftlich zu leisten sei. ( Kraft 1937 , 227 )
Hier hat sich Krafts Meinung bereits 1940 geändert. Moraltheorie hat sich mit der Be-
gründungsfrage zu beschäftigen ( u. a. Kraft 1968 , 92 ). Diese hat die Frage danach zu be-
antworten , warum sich niemand der Einnahme des gemeinsamen Standpunktes entziehen
„kann“. Heiner Rutte fasst Krafts Moralbegründung folgendermaßen zusammen :
Ausgehend von einer eingehenden semantischen Analyse der Wertungen , gelangt er – ent-
gegen einem ethischen Subjektivismus , Emotivismus und Relativismus – zu einer erkennt-
nismäßig-empirischen Begründung ( sozial- )moralischer Forderungen , welche sich auf den
objektiven Charakter der teleologischen Beziehung von Absicht und Mittel und die tatsäch-
lich gegebene Allgemeinheit fundamentaler menschlicher Zielsetzungen stützt , wodurch ein
Schluß auf eine geltungsmäßige „Richtigkeit“ oder „Unrichtigkeit“ derartiger Forderungen
gestattet ist , ohne die strenge Dichotomie von Sein und Sollen zu gefährden. ( Rutte 1973 , 7 )
Ist dem zuzustimmen ? Ausgangspunkt ist für Kraft eine semantische Analyse morali-
scher Wertungen , die sich bei ihm als überindividuelle Werturteile herausstellen. In ihnen
fordert ein Individuum die Anerkennung des Urteils von bestimmten Individuen nicht
aus individueller Perspektive , sondern fordert im Namen einer gemeinsamen Perspekti-
ve die Urteilsanerkennung von allen. In der Begründung , warum diese Werturteile allge-
mein anzuerkennen sind , stützt Kraft sich zunehmend , auch das wird von Rutte richtig
gesehen , auf ein teleologisches Argumentationsschema , dessen eine Prämisse eine objek-
tiv zu beurteilende Zweck-Mittel-Beziehung bildet. Nicht richtig ist hingegen die Ana-
lyse , Kraft sehe die allgemeine Geltung der Zielsetzung , welche in der zweiten Prämisse
formuliert ist , durch eine tatsächlich gegebene Allgemeinheit fundamentaler menschli-
cher Zielsetzungen gerechtfertigt. Die Zielsetzungen werden in seinen Begründungsver-
suchen nicht tatsächlich anerkannt , sondern müssen ( praktisch ) anerkannt werden. Die-
ses „Müssen“ erkenntnismäßig zu begründen , genau darin versagen Krafts Versuche. Mit
seiner Analyse , moralische Werturteile als überindividuelle Werturteile bzw. moralische
Normen als allgemeine Forderungen zu verstehen , ging er noch über Schlick hinaus. Die-
sen Anspruch zu begründen , hat jedoch auch Kraft nicht geschafft , wobei er sein Moral-
verständnis zunehmend ent-relativierte. Gab er sich 1937 noch mit der Bedingtheit mo-
ralischer Werturteile zufrieden , so waren sie zuletzt absolut , zeitlich und regional in ihrer
Gültigkeit unbeschränkt ( Kraft 1973b , 72 ).530 Der letzte Abschnitt aus Kraft 1968 hieß be-
reits „Die Überwindung des moralischen Relativismus“. Aussagen darüber , ob Kraft ei-
530 1950 hieß es noch : „Was die Menschen erstreben , ihre Zwecke , bleibt nur so weit dasselbe , als die
Lebensbedürfnisse , durch die es ihnen diktiert wird , die gleichen sind. Es wechseln aber schon die
Zwecke und vor allem wechselt dasjenige , was als Mittel für die Zwecke dienen kann , was nützlich
ist.“ ( Kraft 1950a , 97 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441