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72 Das habsburgische Babylon
tem Habsburgermonarchie in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht kenn
zeichnen. Dem Phänomen der Mehrsprachigkeit ist demnach ein Konfliktpon
tenzial eingeschrieben, das sich zum einen aus der Sicht von Sprachgebrauch im
Kontext sozialer Distinktion ergibt (vgl. dazu Bourdieu 1982 : 719ff.) und zum
anderen, damit eng verknüpft, aus den historisch und soziopolitisch bedingten
Gegensätzen und Widersprüchlichkeiten der kulturell ethnischen Zusammen
setzung der Monarchie.46
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass gegen die – in Ar
tikel 19 verankerte – »Mehr und Vielsprecherei« ein Feldzug mit der Begrün
dung geführt wurde, dass sie eine Bedrohung der nationalen Identität darstelle.
Führende Pädagogen etwa stützten sich dabei in ihrer Argumentation auf Rous
seaus Émile, dem zufolge das parallele Erlernen mehrerer Sprachen im Kin
desalter zu verwerfen sei, da es das Gedächtnis des Kindes übermäßig belaste
und überdies zur Beeinträchtigung des Gemütslebens beitrage. Die Encyklopädie
des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens (1881, zit. nach Burger 1997 :
38) zeigt die unmissverständliche Position der Pädagogik im ausgehenden 19.
Jahrhundert : »[D]ie fremde Sprache bleibt dem Kinde eine Fremde und soll
es sein«, und Turnvater Jahn meint gar, Mehrsprachigkeit sei »Notzucht des
Gedächtnisses und Entmannen des Sprachvermögens« (Jahn 1884, zit. nach
Burger 1997 : 38). Trotz dieser und vieler anderer kritischer oder mahnender
Stimmen kann das Prinzip der Gleichberechtigung der Sprachen zu den unan
fechtbaren Lebensgrundlagen der Monarchie gezählt werden und schien sogar
so sehr dem allgemeinen Rechtsempfinden zu entsprechen, dass es sich gegen
die unmittelbaren Interessen der dominierenden Nationalitäten immer wieder
durchsetzte (Burger 1997 : 40).47 Das Konzept der Mehrsprachigkeit scheint
demnach im historischen Kontext der Habsburgermonarchie durchaus positiv
besetzt, muss aber im Wechselspiel der mannigfachen (gesellschaftspolitisch
motivierten) Interessen und deren jeweiliger Instrumentalisierung durch vor
wiegend national motivierte Kräfte gesehen werden.
46 Das Problem der Plurilingualität wurde freilich auch durch die konfessionelle Pluralität der Mo
narchie potenziert. Vgl. dazu im Detail Wandruszka/Urbanitsch (1985).
47 Auch Brix (1982 : 61) stellt eine eher »minderheitenfreundliche« Politik vor allem durch Entschei
dungen des Verfassungsgerichtshofs fest.
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437