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Sprachpolitik zur »Annäherung der Volksstämme« 75
nicht näher darauf ein. Kann (1964a : 190) stützt sich auf die diesbezüglichen
Auslegungen des erwähnten Artikels 19 von 1867, wonach als »Landessprache«
die von mindestens 20 % der Bevölkerung eines Kronlandes, also von anerkann
ten Nationalitäten, verwendete Sprache bezeichnet wird, während unter »lan
desübliche Sprache« die Sprache im Verkehr mit den Behörden, im Unterricht
und in kulturellen Angelegenheiten verstanden wird. Kolonovits (1999 : 96f.)
hingegen betont, dass in der Rechtssprechung des Reichsgerichts eine Sprache
als »landesüblich« galt, wenn sie »im Lande überhaupt, also auch nur in ein
zelnen Orten oder Bezirken desselben üblich« ist. In diesem Sinn bedeutet der
Begriff »landesüblich« so viel wie »gerichts , bezirks oder gemeindeüblich«. In
dieser Sprache muss laut Kolonovits zwischen dem Territorialitätsprinzip und
dem Personalitätsprinzip unterschieden werden. Nach Ersterem gilt es, den ört
lichen Anwendungsbereich einer Sprache festzulegen, und nur in jenem Gebiet,
in dem die Sprache »landesüblich« ist, ist eine Gleichberechtigung in »Amt und
öffentlichem Leben« nach der Rechtssprechung geboten. Das Personalitätsprin
zip wiederum tendiert dazu, das Recht auf die Verwendung der Sprache im
Amt an die »Volksstammzugehörigkeit« zu binden. Angesichts dieser komple
xen Rechtsinterpretation scheint die Fülle an vor Gericht ausgetragenen Strei
tigkeiten nicht verwunderlich.51
Zahlreiche Verordnungen und Gesetze zur Durchführung des Artikels waren
zumeist aus Anlass heftiger nationaler Streitigkeiten entstanden. Auch die vom
deutschliberalen Justizminister Karl von Stremayr unter der Regierung Taaffe
erlassenen Sprachenverordnungen vom 19. April 1880 können im Rahmen ei
ner nationalen »Versöhnungspolitik« als Reaktion auf den Einzug der Tschechen
in den Reichsrat (1879) und ihre Forderungen nach verstärkter sprachlicher
Gleichberechtigung interpretiert werden (Rumpler 2000 : 775). Die Verordnun
gen regelten den Gebrauch der äußeren Amtssprache der politischen Behörden
und der Gerichtsbehörden in Böhmen und Mähren und normierten die Ver
wendung beider Landessprachen im Verkehr der Gerichte, was im deutschböh
mischen Lager heftige Proteste hervorrief. Als unmittelbare Reaktion forder
ten die Deutschliberalen wie erwähnt die gesetzliche Festlegung der deutschen
Sprache als Staatssprache. Die Behörden in Böhmen und Mähren wurden un
terdessen angewiesen, Amtshandlungen in jener Sprache abzuwickeln, in der
die Eingabe vorgebracht wurde. Dies betraf nicht nur die Beantwortung von
Eingaben, sondern auch amtliche Bekanntmachungen und Eintragungen in öf
fentliche Bücher wie Grundbuch, Handels und Firmenregister. Damit wurde
51 Vgl. zur vorliegenden Diskussion auch Fischel (1910 : LXXVII) sowie Hugelmann (1934 : 94f.).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437