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92 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
Ammen78, Pferdeknechte u.a.m. Die meisten von ihnen kamen im Zuge der vor
allem in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts einsetzenden Migration in
die großen Städte, angelockt von der Hoffnung auf wirtschaftlichen Erfolg oder
zumindest höheren Verdienst. So befand sich etwa im Jahr 1890 die Hälfte der
BewohnerInnen Böhmens nicht mehr in ihrem Geburtsort. Wien als Residenz
hauptstadt war naturgemäß, jedoch auch gemeinsam mit anderen Großstädten
wie Prag, hauptsächlicher Zielpunkt der Wanderbewegungen. Wien wuchs zwi
schen 1880 und 1900 um 130,8 %, während die Wachstumsrate noch 20 Jahre
davor lediglich 35,5 % betragen hatte (Glettler 1972 : 25f.).79 Die vor allem aus
den tschechischen Gebieten Böhmens und Mährens einwandernden Frauen
und Männer nahmen allesamt niedrige Sozialpositionen ein und prägten das
Alltagsleben der Städte, in denen sie wirkten, in entscheidendem Maße, wie aus
den folgenden plastischen Schilderungen hervorgeht :
Damit der Wiener sein verträumtes, unpünktliches, an kleinen Freuden und Ge
nüssen so reiches Leben führen könne, arbeitet unauffällig und still eine Präzisi
onsmaschine, deren rastlose und fleißige Arme die Tschechen sind. Sie sind unsere
Schneider und machen unsere schönsten Kleider ; sie sind unsere Schuster und
machen unsere schönen Schuhe ; sie geigen und blasen unsere schöne Musik ; sie
kochen unser gutes, gesundes Essen ; sie zimmern und polieren unsere schönen
Möbel ; sie kutschieren unsere schönen Equipagen […], und die milchstrotzenden
Brüste der böhmischen Ammen nähren die Wiener Kinder. (Friedländer 1948, zit.
nach John/Lichtblau 1993 : 419)
Im Folgenden wird unter den zahlreichen Berufsgruppen zunächst speziell auf
den Bereich der (nicht in den deutschsprachigen Gebieten geborenen) städtischen
78 Ammen aus der mährischen Hannakei und aus Iglau waren aufgrund ihrer Milchqualität beson
ders gefragt : »[In Iglau] sind sie der Reihe nach gestanden, und der Hausarzt ist hingegangen und
soll die Brust der Amme so (prüfende Handbewegung) gedrückt haben. Da ist dann der Strahl
herausgekommen, und wenn er dick und weit gewesen ist, dann war das eine gute Amme« (Mer
tinz, geb.1901, zit. nach John/Lichtblau 1993 : 28). Die meisten der Ammen siedelten sich jedoch
nicht in den Städten an, sondern kehrten mit ihren Ersparnissen wieder in ihre Heimatdörfer
zurück.
79 Es ist jedoch auch anzumerken, dass die Fluktuation an MigrantInnen sehr hoch war. Glettler
merkt dazu treffend an, das Wiener Tschechentum ähnelte einem »Hotel, das zwar stets besetzt
war, aber immer wieder von anderen Leuten« (Glettler 1972 : 41). Auch Hubbard (1984) berech
nete für Graz im Detail nicht nur Zu
, sondern auch Abwanderungsraten für den Zeitraum 1850–
1914. Zur Frage des Heimatrechts in der Habsburgermonarchie vgl. Reiter Zatloukal (2009).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437