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»Polykulturelle Kommunikation« 99
der jeweiligen Familienväter überlassen. Wie Andrásfalvy (1978 : 306) hervor
hebt, bedeutete Tauschkind sein, nicht nur während der Arbeits oder Schulzeit
die fremde Sprache zu verwenden, sondern völlig in die Lebensumstände der
anderen »Kultur« einzutauchen. Tauschkinder lernten nicht nur die Gastfami
lie und ihr Umfeld näher kennen, sondern auch einen anderen Lebensstil oder
andere Betriebsorganisationen. Der Tausch erfolgte zumeist auf der Basis alter
Bekanntschaften. So kamen Kinder oftmals auf ein Gehöft, auf dem früher be
reits ein Elternteil die andere Sprache gelernt hatte. Auch auf Bekanntschaften
aus der Soldatenzeit wurde für den Kindertausch zurückgegriffen. Getauscht
wurden die Kinder ebenso zwischen Personen, die einander häufig landwirt
schaftliche Produkte abnahmen. Wurde bei alten Bekannten kein gleichaltri
ges Kind für den Austausch gefunden, half das Dorf oder auch die Schule mit
Empfehlungen und Ratschlägen weiter. Zumeist wurde der Kindertausch über
mehrere Generationen hinweg praktiziert. Fälle von Tauschkindern sind bis in
die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts dokumentiert (Liszka 1996 : 64).
Dokumentierte Fälle des Kinderwechsels gibt es viele. So berichtet etwa die
1901 geborene Maria Gremel von einem ungarischen Jungen, der elfjährig an
den Hof kam, auf dem sie sich bereits mit neun Jahren verdingt hatte, um dort
die Kühe zu hüten. Er verbrachte den ganzen Sommer auf dem Hof in der
Buckligen Welt und hatte alle Mühe, Deutsch zu lernen. Kurze Zeit darauf
starb er daheim im ungarischen Dorf an einer Lungenentzündung, was Maria
Gremel mit »[n]un brauchte er kein zweites Mal […] fort, und auch das schwer
erlernte Deutsch war umsonst« kommentierte (Gremel 1991 : 164f.). Auch an
der Grenze zwischen Kärnten und Krain war die Praxis des Kinderwechsels seit
Beginn des 19. Jahrhunderts üblich. In Bischofsberichten wurde jedoch diesbe
züglich geklagt, dass die Kinder der Krainer dadurch »in der Sittlichkeit« verdor
ben würden und »wohl oft auch, da in Kärnthen viele Protestanten sind, in der
Religiösität erkaltet und und sogar vom Irrthume angesteckt zurückkommen«.
Um dem abzuhelfen, schlug der Bischof vor, in der Krain einen Deutschunter
richt einzurichten, um damit den Wechsel der Kinder zu verhindern (Mitterauer
1983 : 128, 148).86 Die Mehrsprachigkeit in den Dörfern des Mecsekgebirges
86 Ein slowenischer Lehrer berichtet 1908, dass die slowenische Bevölkerung in Kärnten durch den
Kindertausch ihre Assimilationsbereitschaft zeigte und damit gleichzeitig ihren sozialen Aufstieg
betrieb (vgl. Fielhauer 1978 : 118). Die Problematik religiöser Implikationen des Kindertauschs ist
in Ungarn bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert dokumentiert : So drohte die Tyrnauer Diöze
sensynode von 1629 den Eltern, die ihre Kinder zu protestantischen Familien schickten, mit der
Verweigerung der römisch katholischen kirchlichen Beerdigung (vgl. Kósa 1987 : 86).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437