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100 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
nördlich von Pécs im südwestlichen Ungarn machte ebenso den Austausch von
Kindern erforderlich, die zwischen deutsch und ungarischsprachigen Dörfern
wechselten und dort oft Jahre zubrachten, wie auch jene im Ofener Bergland,
wo die Kinder zwischen slowakischen, ungarischen, deutschen und serbischen
Dörfern ausgetauscht wurden. Da der Handel zwischen den einzelnen Dörfern
sowie die Belieferung Budapests mit den Erzeugnissen aus der Ofener Gegend
die Zwei oder Mehrsprachigkeit der an diesen Tätigkeiten beteiligten Perso
nen notwendig machte, wurden die Kinder in die Nachbardörfer geschickt, in
der die jeweils als funktional erachtete Sprache gesprochen wurde, und blieben
dort zwei bis drei Jahre. Sie besuchten die Schule,87 nannten ihre »Pflegeeltern«
»Vater« und »Mutter« und gingen für gewöhnlich keiner Arbeit nach. Auch die
Anwesenheit kleiner Mädchen in den Dörfern zum Zwecke des Spracherwerbs
ist dokumentiert : Oft kamen sie in so jungem Alter, dass die Pflegemutter sie
ankleiden und ihre Haare zurechtmachen musste (Meiners 1982 : 274, András
falvy 1978 : 307).
Ähnlich war die Situation entlang den »ethnischen« Grenzflüssen March
und Thaya im Zusammenwirken der Slowakisch und Deutsch sprechenden Be
völkerung. Dort gingen die deutschsprachigen Kinder (zumeist Hoferben) »auf
Wechsel«, d.h., sie brachten ca. drei Monate bis zwei Jahre auf dem Hof der
Slowakisch sprechenden Bauern zu, gingen zur Schule und verrichteten leichte
Hofarbeiten, um später als Bauern mit den fremdsprachigen Dienstboten und
SaisonarbeiterInnen verhandeln zu können, während die Kinder der slowaki
schen Bauern bei der Familie des »Austauschkindes« Deutsch lernten, um diese
Kenntnisse später im Vieh und Holzhandel zwecks besserer Geschäftsver
handlungen anzuwenden (vgl. Gehl 2009 : 109). Auch in den Lebenserinnerun
gen des 1870 im mährischen Untertannowitz/Dolní Dunajovice geborenen Karl
Renner ist nachzulesen, dass bis zu seinem zwölften Lebensjahr »zur Schulzeit
fast täglich an unserem Tische auch ein Fremder« gesessen hatte, ein Fremder,
»der uns doch nicht fremd war« – ein Tauschkind (Renner 1946 : 45). Der Kin
dertausch war in diesen Gegenden auch zwischen Familien von Gastwirten aus
verständlichen Gründen sehr beliebt, vor allem, wenn es sich um Garnisonsorte
handelte ; einige männliche Jugendliche lernten auch auf diese Weise Deutsch,
um vor der Einberufung zum Militär über einschlägige Sprachkenntnisse zu
verfügen (Fielhauer 1978 : 117ff.). Zwischen den BewohnerInnen der deutschen
Sprachinseln und den umliegenden Dörfern in Nordmähren fand zwecks Spra
87 Vgl. zum Problem des Schulbesuchs von Wechselkindern : Burger (1995 : 196) sowie Hugelmann
(1934 : 398, 406).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437