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112 Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie
Originale) gefragt war, zurückzuführen ist. Dies ist zunächst im Kontext der
Sprachverwendung im Reichsrat zu beleuchten, der ja durch seine Handhabe
implizit eine bestimmte Art von Konvention in der unmittelbaren Anwendung
seiner Gesetze vorgab und damit gleichzeitig – wiederum implizit – die Ent
wicklung in der diesbezüglichen Gesetzgebung widerspiegelte. Vor solchem
Hintergrund erscheint es nicht besonders verwunderlich, dass keine der schrift
lich fixierten Normen, die die Tätigkeit des Reichsrates regelten, Vorschriften
zur Sprachfrage enthielten und sich die Verhandlungssprache auf der Basis von
Konventionsregeln abwickelte, womit einmal mehr die Schnittstelle zwischen
»habitualisiertem« und »institutionalisiertem Übersetzen« berührt wird.
Wie nicht anders zu erwarten, wurde die Vorherrschaft der deutschen Spra
che im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte sukzessive durch andere Sprachen
zurückgedrängt. Die zunehmende Forderung nach kodifizierter und damit auch
realiter durchzuführender Gleichberechtigung schlug sich im Abgeordnetenhaus
vor allem in den Reden der Abgeordneten nieder, die bis 1861 ausschließlich in
Deutsch erfolgten ; im September 1861 jedoch wurde diese Konvention erstmals
durch einen dalmatinischen Abgeordneten gebrochen, der eine Rede in serbi
scher Sprache hielt und dem Präsidium eine deutsche Übersetzung seiner Rede
überreichte, die in das Protokoll integriert wurde. Bis zum Jahr 1873 erwies sich
dies als gängige Praxis, doch unterblieb dann die Lieferung der deutschen Über
setzungen, und die Reden wurden nicht mehr in die stenografischen Protokolle
aufgenommen. Dies führte immer wieder zu Protesten und verhärtete die Fron
ten zusehends, bis 1874 der Präsident des Abgeordnetenhauses Karl Rechbauer
eingestand, dass die deutsche Sprache nicht »als ausschließliche Staatssprache«
gelte [ !] und auch andere Sprachen im Parlament verwendet werden dürften.
Als vor allem die Tschechen ab dem Ende der Siebzigerjahre von diesem Recht
verstärkt Gebrauch machten, hatte der Präsident des Abgeordnetenhauses au
ßer dem Argument der »langjährigen Übung« (= Verwendung der deutschen
Sprache als Konvention) nur die technischen Probleme entgegenzuhalten, die
entstehen, wenn stenografische Protokolle gleichzeitig in acht Sprachen auf
zunehmen seien. Erst 1917 gelang es den nichtdeutschen Abgeordneten, einen
Antrag auf Aufnahme in die stenografischen Protokolle von sämtlichen Reden
in wortgetreuer Form, also in der jeweiligen Ausgangssprache, erfolgreich ein
zubringen (vgl. Stourzh 1980 : 1049ff.).106
Diese Verhältnisse spiegeln sich in der habsburgischen Verwaltung wider,
wenn auch um ein Vielfaches komplexer. Gerade das Verwaltungswesen ist ne
106 Vgl. zu weiteren Details Hugelmann (1934 : 146f.).
Die vielsprachige Seele Kakaniens
Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die vielsprachige Seele Kakaniens
- Untertitel
- Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918
- Autor
- Michaela Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78829-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 442
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Dankesworte 11
- Einleitung 13
- Erstes Kapitel
- Zweites Kapitel
- Drittes Kapitel
- Viertes Kapitel
- Die translatorische Praxis in der »großartigen Versuchsstation« der Habsburgermonarchie 87
- »Habitualisiertes Übersetzen« 90
- »Institutionalisiertes Übersetzen« 103
- Kontakt zwischen Behörden und Parteien 120
- Dolmetschen und Übersetzen bei Gericht 128
- Die Übersetzung von Gesetzestexten 142
- Translationstätigkeit im Ministerium des Äußern und im
- Kriegsministerium 165
- Fünftes Kapitel
- Sechstes Kapitel
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- 1. Institutionalisierungstendenzen privater Übersetzung 202
- 2. Der private Übersetzungssektor als Schauplatz von
- Positionierungskämpfen 208
- »Prompt, zu jeder Tageszeit« : der private Übersetzungssektor 202
- Siebtes Kapitel
- Achtes Kapitel
- Neuntes Kapitel
- 4. Folgerungen aus der Rekonstruktion des »translatorischen
- Zehntes Kapitel
- Der Vielvölkerstaat als Interaktionsfeld von Übersetzungsleistungen – Schlussbetrachtungen 362
- Verzeichnis der in der Habsburgermonarchie erschienenen Übersetzungen Italienisch – Deutsch 1848–1918 378
- Verzeichnis der Tabellen, Grafiken und Abkürzungen 392
- Tabellen 392
- Grafiken 393
- Abkürzungen 393
- Literaturverzeichnis 394
- Quellen 394
- Sekundärliteratur 396
- Sachregister 434
- Personenregister 437