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4.3 Engagement in überparteilichen Organisationen
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Den Sinn der Wissenschaft und des Lebens zu deuten , dem menschlichen Wollen neue Im-
pulse zu geben , der schöpferischen Entwicklung , die in unserem Seelenleben sich vollzieht ,
die grenzenlosen Möglichkeiten zu zeigen , und so ein neues und wirksameres Leben zu
schaffen , das ist heute die Aufgabe der Philosophie.
[ … ]
Die Wissenschaft ist die Mitte , die Philosophie aber der Anfang und das Ende , das A und
das O. Der Philosoph fragt nach dem Ursprung aller lebendigen Kräfte im Menschen , um
dann mit Hilfe der Wissenschaft ihr Endziel zu bestimmen. Eine derartige mühevoll erar-
beitete Lebensanschauung wird dann ein Glaube und ein Programm. Wissenschaft , Kunst
und Religion können dann vielleicht einen Brennpunkt finden in einer solchen dem Leben
zugekehrten und lebensfördernden Philosophie. ( Jerusalem 1913 , 19 f. )
Neben der Aufgabe , die Gesetze der moralischen Beurteilung zu untersuchen , liegt für
Jerusalem eine weitere Aufgabe der Ethik ausdrücklich darin , Normen für das moralische
Handeln aufzustellen. ( Jerusalem 1913 , 257 ) Moral ist für ihn wesentlich sozial :
Die moralische Beurteilung ist die Wertschätzung einer sozial bedeutsamen Leistung.
Die moralische Beurteilung trägt von Anfang an sozialen Charakter und nimmt deshalb Teil
an der sozialen Entwicklung. ( Jerusalem 1913 , 277 )78
Seine Wertlehre ist grundsätzlich eudämonistisch , das heißt , sie steht letztlich im Diens-
te eines glücklichen Lebens :
Der letzte Grund dafür , daß man etwas für gut hält , kann doch immer nur der sein , daß da-
durch die Menschheit gefördert , ihr Leben inhaltsreicher und glücklicher wird. ( Jerusalem
1913 , 282 )
Wie Bartholomäus von Carneri79 und Jodl kombinierte Jerusalem die Evolutionstheo-
rie Darwins mit einem ethischen Idealismus. ( Uebel 2000 , 293 ) Die Moral ist für ihn das
höchste Entwicklungsprodukt und ähnlich wie bei Schlick findet sich ein Hang zum Har-
monischen. Die Spannung zwischen sozialer Forderung und individueller Neigung ver-
hält sich seiner Auffassung nach folgendermaßen :
78 Jerusalem untersuchte die soziologische Dimension der Moral u. a. in Jerusalem 1909. 1907 gründete er
mit Max Adler , Rudolf Eisler , Rudolf Goldscheid , Ludo Hartmann , Michael Hainisch , Rosa Mayre-
der , Josef Redlich und Karl Renner die Soziologische Gesellschaft.
79 Bartholomäus von Carneri ( 1821–1909 ) war deutsch-liberaler Politiker , Dichter und Philosoph. Er
nannte sich schon 1893 „Monist“. Sein Buch Der moderne Mensch ( 1891 ) stellte , so Uebel , geradezu „eine
Fibel für verantwortungsbewusste Atheisten“ dar. ( Uebel 2000 , 292 ) Nicht zuletzt Schlick wurde von
Carneri stark beeinflusst.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441