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4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements
80 trat nicht nur die Ansichten Ludwig Feuerbachs , sondern gab zwischen 1903 und 1911 ge-
meinsam mit Wilhelm Bolin eine Gesamtausgabe der Werke Feuerbachs heraus.
Erkenntnistheoretisch war Jodl Realist und grenzte sich sowohl von seinem Vorgänger
auf der Wiener Lehrkanzel Brentano als auch von seinem Kollegen Mach ab. Dem fal-
schen erkenntnistheoretischen Idealismus stellte er den in seinen Augen richtigen ethi-
schen ( moralischen ) Idealismus gegenüber :
Der wahre Idealismus glaubt an die Idee der Güte , der Gerechtigkeit , der Harmonie : sie sind
ihm wirklich , d. h. wirkende Kräfte , wenn nur wir daran glauben und sie zur Richtschnur un-
seres theoretischen und praktischen Verhaltens machen [ … ].
Sich der Natur gegenüber zu stellen als ganzer Mensch , ohne jeden Mittler außer dem eigenen mu-
tigen Willen : im Erkennen Realist , im Handeln Idealist , das soll der Lebensgrundsatz des mo-
dernen Menschen sein. ( Jodl 1920 , 184 f. )
In Ablehnung theologischer und vor allem kirchlicher Vorgaben vertrat Jodl , jeder Mensch
müsse sich die moralischen Ideale selbst setzen. In seiner Geschichte der Ethik heißt es im
Zusammenhang mit Feuerbachs Ethik :
Indem der Atheismus das theologische „Über“ dem Menschen aufhebt , hebt er doch nicht
auch das moralische und natürliche „Über“ auf. Das moralische „Über“ ist das Ideal , das sich
jeder Mensch setzen muß , um etwas Tüchtiges zu werden ; aber dieses Ideal ist und muß sein
ein menschliches Ideal und Ziel. ( Jodl 1889 , 279 )
Jodl vertritt in seiner Ethik nicht nur inhaltlich eine humanistische Moral , sondern auch
ein humanistisches Menschenbild der Charakterbildung. Dieses Selbstsetzen ist für Jodl
ein aktives Tun , zu dem durchaus direkt angeleitet werden kann. Er trat deshalb auch aus
diesem Grunde für einen Ethikunterricht ein.
Die Inhalte seiner Moral lassen sich jedenfalls nicht auf einen oberflächlichen Utilita-
rismus verkürzen :
Wenn so der soziale Eudämonismus zu seinem Rechte gekommen ist [ … ] dann , aber auch
nur dann , kann man den Menschen deutlich machen , dass das Genießen der Güter höchs-
tes nicht ist ; dass höchstes Menschentum nicht im Genusse , sondern in der zwecksetzenden
Tätigkeit und ihren Erfolgen liegt ; dass , von diesem Gedanken aus betrachtet , Wohlfahrt nur
als Mittel zum Zweck , nicht als Selbstzweck angesehen werden kann. [ … ], Wohlhabenheit
als Weg zu innerem Reichtum ! ( Jodl 1911 , 27 f. ; zit. n. Uebel 2000 , 298 f. )
Im International Journal of Ethics , wie die heutige Zeitschrift Ethics zunächst hieß , pub-
lizierte Jodl nicht nur , sondern die Gründung dieser Zeitschrift im Jahr 1890 geht direkt
auf die Ethische Bewegung zurück. Sowohl Gižycki als auch Jodl waren im ersten Her-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441