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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
110 Kognitivismus , der neukantianische Züge trägt. Wie Mormann festhält , gibt es für Carnap
in diesem Artikel objektive Werte. Die Objektivität von Werturteilen , insbesondere in
politischen – und moralischen , so ist Mormann hinzuzufügen – , kann erkannt werden.
Die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker seien solche objektiven
Werte. ( Mormann 2010c , 2 ) Gerade die Aufgabe der Philosophie liege darin herauszufin-
den , welche Werte und Werturteile als objektive gelten können.
Die Lebensphilosophie kommt in dieser Periode theoretischer Auseinandersetzung mit
Moral nicht zum Tragen , so wir nicht davon ausgehen , die kognitivistische Terminologie
in diesem Beitrag sei nur vorgeschoben und die Rede von „Wahrheit“ werde nur der Text-
sorte oder dem Publikationsorgan geschuldet. Wenn wir diese Interpretationsmöglichkeit ,
die nicht gänzlich ausgeschlossen ist , jedoch durch den authentischen Stil des Textes , bei
dem es sich um einen politischen Diskussionsbeitrag und nicht um eine literarische Arbeit
handelt , nicht nahe liegt , bleibt es bei einer Verbindung von kognitivistischer Wertlehre
mit neukantianischen Anklängen und marxistisch-hegelianischer Geschichtsmetaphysik.
Beides wird in der Wiener-Kreis-Periode zusehends wieder verschwinden.
Schon im Mai 1918 hatte sich Carnap in einem internen Rundbrief des Freundeskreises
in ähnlichem Sinne geäußert. Nohl fand diese idealistische Weltfriedensordnung schwär-
merisch. Das Leben wĂĽrde darin als zu abstrakt-rational gesehen , was es nicht sei :
Streckenweise wisse man klar , was zu tun sei , was recht und gut ; anderswo gerate man in
Zweifel und wisse erst nach dem Tun , was recht gewesen wäre. Das Leben enthalte das Tra-
gische und Dissonantische. ( Flitner 1986 , 240 )
Carnap hingegen glaubte daran , theoretisch Ordnung ins praktische Chaos bringen zu
können. Auch der Gesellschaft sollte mithilfe der Theorie eine Ordnung gegeben wer-
den , in der zielorientiert gearbeitet werden könne. ( Vgl. Carus 2007b , 22 f. ) Für das Ge-
biet der Wissenschaften bedeutete das als letztes Ziel ein umfassendes System aller Be-
griffe , wie er es mit dem Aufbau versuchen wird ( Carus 2007b , 23 ff. ), dem der nächste
Abschnitt gewidmet ist.
Carnap wird also mit einer humanistischen Lebenseinstellung , die sich sowohl im Pri-
vaten als auch im Politischen ( im weitesten Sinne ) bewähren sollte , nach Wien kom-
men. Die Werte , die zu dieser Haltung gehören , waren und blieben ihm sehr wichtig. Zu-
nächst blieben sie das auch als Untersuchungsgegenstand der Philosophie. 1922 äußert er
sich in einem Brief an Heinrich Scholz , in dem er ĂĽber eine akademische Karriere nach-
denkt , dahingehend :
Ich bin kein Philosoph und glaube nicht recht daran , dass mir eine Fakultät eine philosophi-
sche Professur geben wĂĽrde. Das heutige Fach Philosophie vereinigt ja sehr heterogene Ge-
biete. Ich sehe da vor allem zwei Hauptteile : 1 ) Ethik , Aesthetik , Religionsphilosophie , Me-
taphysik ; man kann auch sagen : Kultur- und Naturphilosophie , oder die Wissenschaft von
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441