Page - 121 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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stein , Mach ) verschwanden um 1930 neukantianische , phänomenologische und sonstige
nichtempiristische Komponenten aus Carnaps Philosophie. ( Mormann 2006 , 174 ) Wo-
bei Carnap sicherlich selbst an der antimetaphysischen Einstellung des Wiener Krei-
ses , die nicht alle Mitglieder in derselben Weise teilten , mitwirkte. Carnap selbst betont ,
dass eine einflussreiche Idee Wittgensteins für ihn dessen Einsicht war , viele philoso-
phische Sätze , besonders in der traditionellen Metaphysik , seien Scheinsätze ohne ko-
gnitiven Gehalt. Gleichzeitig gibt er zu verstehen , dass ihm diese Ansicht ähnlich derer
schien , zu welcher er schon zuvor unter dem Einfluss antimetaphysischer Wissenschaft-
ler und Philosophen gekommen war. ( Carnap 1963a [ 1993 , 40 ]) Nicht nur Wittgenstein ,
sondern sehr wohl auch Wissenschaftler wie Kirchhoff , Hertz und Mach , sowie Philo-
sophen wie Avenarius und Russell hatten Einfluss auf diese seine Ansicht. ( Carnap 1963a
[ 1993 , 69 ])170 Am deutlichsten war Carnaps Ablehnung der Metaphysik jedoch zur Wie-
ner Zeit , und zwar hauptsächlich unter dem Einfluss Wittgensteins ( Carnap 1963a [ 1993 ,
59 ]) und wohl auch Neuraths.
In Scheinprobleme hält Carnap nur jene Aussagen ( Sätze ) für sinnvoll , die sachhaltig
sind :
Der Sinn einer Aussage besteht darin , dass sie einen ( denkbaren , nicht notwendig auch be-
stehenden ) Sachverhalt zum Ausdruck bringt. ( Carnap 1928b [ 2004 , 26 ])
Eine Aussage p heißt sachhaltig , wenn Erlebnisse , durch die p oder das Gegenteil von p
fundiert werden würde , wenigstens als Erlebnisse denkbar sind und ihrer Beschaffenheit
nach angegeben werden können. ( Carnap 1928b [ 2004 , 28 ]) Wobei eine Aussage q durch
ein Erlebnis E fundiert ist , wenn p den Inhalt von E ausspricht und die Aussage q entwe-
der gleich p ist oder aus p und früherem Erfahrungswissen durch Deduktionen oder in-
duktiven Schlüssen ableitbar ist. ( Carnap 1928b [ 2004 , 28 ])
Eine Aussage gilt auch dann als sachhaltig , wenn sie nur durch vergangene Erlebnis-
se fundiert werden kann und jetzt nicht mehr nachprüfbar ist. Auf die tatsächliche Über-
prüfbarkeit komme es für den Sinn nicht an. Sinnvoll sind sachhaltige Aussagen , „weil es
ja wenigstens denkbar ist , daß sie einmal als wahr oder falsch erkannt werden“ ( Carnap
1928b [ 2004 , 29 ]. Carnap behauptet daher :
Nur sachhaltige Aussagen sind theoretisch sinnvoll ; ( scheinbare ) Aussagen , die grundsätzlich
nicht durch ein Erlebnis fundiert werden können , sind sinnlos. ( Carnap 1928b [ 2004 , 44 ])
Es geht also bei der ( theoretischen ) Sinnhaftigkeit um die grundsätzliche Möglichkeit
der Fundierung , die letzten Endes auf Erfahrungswissen aufbaut. Eine sinnvolle Aussage
170 Über die Verbindung von Carnap und Russell siehe u. a. Pincock 2007.
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441