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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
126 Erst später wandte sich das Bauhaus ( v. a. unter Hannes Meyer in Dessau , der dann Carnap ,
Neurath und Feigl zu Vorträgen einlud ) mehr der Industrie und bestimmten modernisti-
schen Strömungen zu , worauf ich unten zu sprechen kommen werde. Ich will hier keine
Behauptung darüber aufstellen , was Carnap zu Jenaer Zeiten mit dem Bauhaus verband ,
sondern dies lediglich als hinreichenden Grund anführen , um von einer zu eindimensio-
nalen Interpretation des Verhältnisses Carnaps zum Bauhaus abzusehen. Besonders zu Be-
ginn der 1920er-Jahre könnte es viel komplexer gewesen sein , als Friedman ( 2000 [ 2004 ,
31 f. ]) es für die Wiener Zeit , gestützt auf eine Erinnerung Feigls , darstellt :
Carnap und Neurath hatten auch insofern viele Gemeinsamkeiten , als sie in gewisser Weise
utopische Sozialreformer waren
– Neurath sehr aktiv , Carnap eher „philosophisch“. [ … ] Ich
schulde [ Neurath ] besonderen Dank dafür , daß er mich ( ich denke als den ersten „Gesand-
ten“ des Wiener Kreises ) nach Dessau an das Bauhaus schickte , das damals , 1929 , eine aus-
gesprochen fortschrittliche Hochschule für Kunst und Architektur war. Dort lernte ich wäh-
rend einer Woche mit Vorlesungen und Diskussionen Kandinsky und Klee kennen. Neurath
und Carnap waren der Meinung , daß die Philosophie des Kreises ein Ausdruck der neuen
Sachlichkeit war , die zur Ideologie des Bauhauses gehörte. ( Feigl 1969b , 637 ; Übersetzung aus
Friedman 2000 [ 2004 , 31 ])
Die grundlegende philosophisch-politische Orientierung Carnaps beschreibt Friedman
deshalb als „neue Sachlichkeit“, die er als eine soziale , kulturelle und künstlerische Bewe-
gung versteht , die internationalistisch , sozialistisch , wissenschaftlich , sachorientiert und
anti-individualistisch ausgerichtet sei. ( Friedman 2000 [ 2004 , 31 ])
Franz Roh hatte 1925 Nach-Expressionismus , eine Art Manifest der Neuen Sachlichkeit ,
verfasst , in dem er die Merkmale dieser Strömung in der Malerei anführt : sachlich dar-
stellend statt expressiv , puritanische Strenge , präzise Materialien , gegen die Lebensphi-
losophie. Die Architektur wollte Meyer in Die neue Welt entsprechend an Funktionalität ,
Ablehnung des Ornaments , Zukunftsorientierung , Internationalität und der Glorifizie-
rung der Wissenschaft ( Einstein als Heiliger ) ausrichten. ( Dahms 2004 , 358 ff. ) Zu man-
chen Auffassungen Carnaps liegt hier nicht nur eine inhaltliche Nähe vor , sondern Carnap
und Roh kennen sich seit ihren gemeinsamen Tagen in Jena bei der Freistudentenschaft
und im Serakreis.175 Rohs Nach-Expressionismus entstand zu weiten Teilen zur selben Zeit
und im selben Haus mit Carnaps Aufbau , nämlich im Hause von Carnaps Schwiegervater
in der Nähe von Freiburg , wo die Werke gemeinsam diskutiert wurden. Roh distanzierte
sich endgültig von der Vermischung von Geist ( Wissenschaft ) und Leben.176
175 Roh war es im Übrigen auch , der Carnap mit Neurath bekannt gemacht hatte. Er hatte Neurath 1919
in München ein Versteck geboten. ( Dahms 2004 , 364 )
176 Noch in einem Brief vom 18. August 1935 will Roh den gemeinsamen Freund Flitner , der wie Roh
häufig in Carnaps Domizil nahe Freiburg zu Gast gewesen war , davon überzeugen , endlich auch die
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441